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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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Erinnerung davon, die tausend Fotografien sind seinem blinzelnden Blick nichts als eine skurrile Tapete.
    Langsam erhebt er sich, zieht den Rollladen hoch und löscht das Licht. Draußen ist noch Nacht, die Tageszeit ist ungewiß, aber er weiß sowieso nicht, ob er sie je wieder benötigt. Der Blick aus dem Fenster hat sich keine Spur verändert, im Lichtkegel der Laterne steht dasselbe Stück Welt: die Fichten, der Gartenzaun und die Spuren im Schnee.
    Was eigentlich geschieht mit dem Licht? Wenn die Zeit anhält, hält dann auch der Lauf der Sonne an, die Rotationen der Planeten? Steht die Atmung des Universums still, weil ein Tankwart aus der Provinz eine hölzerne Uhr aufklappt? Oder reicht der Einfluss nur so weit wie der Blick, hinter dem Horizont der Weltenlauf nur verzögert, und die Erde dreht weiter ihre große, stille Bahn um ihren Stern?
    Es rührt sich kein Windzug in den Wipfeln, nicht ein Vogel fliegt vorüber, kein Laut ist zu hören. Das einzige, was nach dem Erwachen funktionierte, war die Nachttischlampe unter seinem Einfluß. Erschrocken denkt er an die Uhr. Der Rucksack ist unten. Er sieht sich ihn am Abend in den Sessel werfen. Oh Gott, wenn Schwammheimer es doch noch mal versucht hat! Dann steht er jetzt wie Lots Weib neben seinem Wohnzimmertisch. Oder er ist mit der Uhr auf und davon und Fokko kann ihn irgendwo suchen. Hat er nicht schon einmal die Idee gehabt, sich mit der Uhr außerhalb der Aura zu bewegen, um die Prägung auf sich zu ziehen?
    Er schleicht sich eiligst durch die Grabesstille die Treppe hinab. Im Arbeitszimmer brennt Licht. Schwammheimer sitzt reglos am Schreibtisch, wird die Uhr höchstwahrscheinlich in Händen halten, die halbe Nacht wie die eigene Bronzeskulptur in die Pose des Belletristen gegossen, der inmitten der poetischen Worte, die er sich abringt, just auf der Taschenuhr nachsieht, wann endlich er den Punkt machen und zum Geneverglas greifen darf. Um ihn herum regt sich die Welt nicht mehr, ist erstarrt bis an den Horizont oder in die eiskalten Zipfel des Universums. Ohne davon zu ahnen, warten die Menschen drauf, die Geschäfte der Nacht zu vollenden, nur Fokko wird als einziger unter ihnen ausgeschlafen sein.
    Schwammheimer wähnt sich allein, weiß Fokko in Träumen gefangen, die von den Fotos gesponnen und verklebt werden. Möglicherweise ist es seine Idee gewesen, den Besitzer der Uhr im Schlaf von der Prägung zu befreien und sie auf sich selbst zu delegieren, aber nun hockt er da wie der Schreiberling in Dornröschens Schloss, wird hundert Jahre keine Idee mehr benötigen, keine Furcht mehr haben vor dem weißen Blatt, das Zahlenbuch in der Schublade lassen. Fokko ist nähergetreten, um ihm über die Schulter zu schauen, da spürt er den Atem des Freundes.
    »Hast du gut geschlafen?« fragt Schwammheimer.
    »Gut, ja«, antwortet Fokko ein wenig überrascht. »Du nicht?«
    »Doch, sehr gut. Stehe nur gewöhnlich sehr früh auf. Morgenstund küßt Dichtermund.«
    »Wie spät ist es denn?«
    Schwammheimer zieht die Taschenuhr aus der Westentasche, klappt sie auf und prüft mit schrägem Blick das Zifferblatt. »Halb acht gewesen.«
    Fokko spürt plötzlich ein starkes Verlangen nach Brot und Musik.
    »Was schreibst du gerade?« fragt er.
    »Ich schreibe einen Text ins Reine. Das ist wie die Ernte einfahren. Die Arbeit ist getan, das Schreiben belohnt sich selbst und ist der pure Sinn, ohne die Angst vor dem weißen Blatt.«
    Er nimmt einen Bogen, der komplett von seiner ingeniösen Hand beschriftet ist, setzt die Brille ab und liest vor: »In den entsetzten Augen der Frau steht in flammenden Lettern das Leben aufgeschrieben, das sie in diesen Minuten abgelebt hat wie ein zeitverdichtetes Fegefeuer, das Kind zittert in ihren Armen, sie müßte längst außer Atem unterwegs sein, dem Jungen die letzte Wärme ihres Körpers zu schenken, ihn endgültig zu retten, aber sie steht nur da und starrt auf den Rücken des toten Mannes, den ein anderer nun umdreht, und da er es nur zur Hälfte erledigt hat, erkennt sie schon von der Seite, schon dadurch, wie ihm die nassen Haare aus dem Gesicht rutschen, es ist niemand anderes als der Vater ihres beinahe ertrunkenen Kindes…«
    »Dein nächster Roman?«
    »Ich weiß es nicht. Es könnte auch ein Essay werden über die verschwiegenen Wege des Schicksals, vielleicht auch etwas anderes, eine neue Form der Literatur, ein essayistsicher Roman, eine romaneske Abhandlung, so eine Mischform, wie man sie bei biographischen

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