Die Uhr der Skythen (German Edition)
gebrachten Stück Wild die schöne Haut. Aber für einen winzigen Augenblick hat er sich revanchiert, gestern, in der halben Sekunde, bevor die Zauberuhr wirksam wurde, hat sie ihn von dem unkeuschen Laken aus, aus den Armen des Siegelrings hervor in einer furchterregenden Chimäre gesehen und erkannt wie ein biblisches Menetekel. Er hätte sie töten können. Er könnte sie aber auch ohne weiteres an den Wahnsinn verschenken, sich für Millisekunden in ihr sportliches Leben mischen, in verfänglichen, banalen und ungewissen Momenten wie eine nervöse Trugwahrnehmung auftauchen und verschwinden, daß sie endlich glaubt, unter Halluzinationen zu leiden, sporadische Erscheinungen zu haben, befragte Zeugen werden sie verlachen, er selbst wird meilenweit entfernt sein, wenn er sie an ihren Frevel gemahnt, und aus Verständnislosigkeit würde ihr Panik erwachsen und Irrsinn.
Aber er will sie nur zurück.
»Eine verrückte Leserin ruft aus einem Dorf bei Cloppenburg an, am Sonntagmorgen, hat meinen ersten Roman gelesen, verschlungen, wie sie behauptet, in der Silvesternacht, die Zeit ist ihr davongeflogen, und als sie das Buch in den frühen Morgenstunden zugeklappt hat, war sie beglückt wie lange nicht, befangen, berührt, besessen. Und das neue Jahr war da. Nette Geschichte.«
Schwammheimer sitzt wieder da, schneidet eine Gurke in Streifen, die er akkurat auf sein Käsebrot drapiert. Fokko stellt sich vor, wie er jemanden, der zeitlebens keinen Zweifel besessen hat, wie die Welt funktioniert, wo oben und wo unten ist, und daß eine Gurke eine Gurke ist, mit kleinsten Eingriffen völlig aus der Bahn werfen, den unerschütterlichen Glauben an die allmächtige Wirklichkeit verlieren lassen könnte. Wenn er beispielsweise dem Tischgenossen unter dem Schutz des Zeitstillstandes die Gurkenstreifen vom Käse fressen, eine vorwitzige Zahl in sein Lebensbuch schreiben oder Pfefferminztee in seine Geneverflasche füllen würde. Oder ihm die Manuskripte auf dem Rechner durcheinander bringen, immer wieder, bis er glaubt, nicht mehr er selbst zu sein.
»Sie wolle sich bedanken, sagt sie, erzählt mir aus einer Geschichte, die ich ja einst selbst geschrieben habe! Wie jemand dir einen Film erzählt, und es nützt überhaupt nichts, daß du mehrfach einwendest, du hast den selben Film bereits dreimal gesehen, bist vielleicht sogar der Regisseur, der Drehbuchautor oder Hauptdarsteller. Es nützt nichts. Sie spricht mit mir wie mit einer Freundin, der sie entflammt von einem Rendezvous berichtet.«
Fokko nickt und stellt sich vor, daß er in diesem Augenblick die Zauberuhr geöffnet auf den Tisch legt. Schwammheimer verstummt. Er selbst wird in aller Stille frühstücken, dann alles in die Küche zurückräumen, das Geschirr abwaschen, den Tisch wischen, irgend ein Buch aus den Regalen holen und es dem Dichter aufgeschlagen in die Hände geben, die im Moment noch Messer und Gabel halten wie zwei chirurgische Instrumente. Und wenn er es sich mit einer Zeitschrift im Ledersessel bequem gemacht hat, wird er verstohlen die Uhr schließen und flugs in seinem Rucksack verschwinden lassen. Unser Leben existiert ausschließlich in unserer Wahrnehmung, und wenn die nicht exakt mit der Wirklichkeit übereinstimmt, verirren wir uns, sind am Ende wie ein Käfer, der über eine Baumwurzel kriecht.
»Es sind verlorene Seelen«, sagt Schwammheimer, schneidet einen Bissen vom Käsebrot und nimmt ihn zu sich wie ein Sakrament. »Im Prinzip.«
Genau so ist es, denkt Fokko. Mit dem Verstand wird man seine Seele verlieren, und die wundersame Uhr kann wohl alles sein: ein billiger Glücksbringer, der Schlüssel zu kleinen Spaziergängen außerhalb der Zeit oder ein schreckliches Folterinstrument.
Nach dem Frühstück wünscht Schwammheimer die Uhr abermals zu sehen, hält sie in den Händen wie eine Reliquie, Fokko macht auch eine Reihe von vergeblichen Experimenten, aber der Einfluß auf den Zauber bleibt dem Schriftsteller versagt, nicht einmal das Innere der Uhr entblößt sich seinem neugierigen Auge.
»Die Prägung auf deine Person ist offensichtlich unheilbar«, sagt er und sucht auf Fokkos Fingerkuppe nach einer Spur, die der kleine Stich hinterlassen haben könnte. »Ihr seid ja gewissermaßen Blutsbrüder.«
»Und was wäre, wenn ich sterbe?« fragt Fokko.
»Gute Frage. Vielleicht geht die Zauberkunst ganz einfach auf deinen Mörder über.«
»Eigentlich will ich die Uhr überhaupt nicht«, sagt er.
»Was willst du denn?«
»Ich
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