Die Uhr der Skythen (German Edition)
Adaptionen hat, aber es ist längst nicht fertig, als nächstes der Schrecken der Frau, quasi riesengroß, man kämpft sich an manchen Tagen tatsächlich von Wort zu Wort, Fokko…«
»Was ist passiert?«
»Ein Junge bricht auf einem See ins Eis ein. Ein Passant, den das Schicksal vorbeischickt, will das Kind retten, bricht selber ein, ertrinkt jämmerlich, der Junge aber klammert sich auf dem Rücken seines ertrunkenen Helfers fest und überlebt.«
»Und dann entdeckt die Mutter, daß just der Vater des ertrunkenen Kindes… «
»Ja«, sagt Schwammheimer und zeigt auf die Manuskriptseite. »Diese Geschichte hätte allerdings einen anderen Verlauf genommen, wenn du mit deiner Uhr zur Stelle gewesen wärest.«
»So?«
»Für die anderen wird ja alles aufgehalten. Angst, Lust, Freude und Tod.«
»Und?«
»Und wenn ich dann deine Uhr wieder schließe, wird eine Frau ihren kleinen Hund weiter ausführen, ein Bergsteiger fällt tiefer in die Gletscherspalte, der Diener befruchtet just die Herrin, und obwohl keiner etwas gespürt hat und nicht eine halbe Sekunde gewonnen ist an Langeweile, Panik oder Wollust, ahnen sie vielleicht doch, daß sich der Lauf der Dinge für einen Atemzug verzögert hat.«
Fokko macht ein Achselzucken und geht ein paar Schritte auf und ab: »Das ist Blödsinn, Schwamm. Das Schicksal läßt sich nicht überbieten. Zwar besitze ich die Uhr und könnte jemanden retten, der ins Eis einbricht, in den Brunnen fällt oder vom Dach stürzt, aber ich werde garantiert zum rechten Zeitpunkt am falschen Ort sein.«
»Du könntest generell in kleinen Intervallen die Zeit anhalten und einen Inspektionsgang durch die Stadt machen, um zu sehen, ob irgendwo jemand im Eis steckt, im freien Fall klebt oder sonst in Not und Gefahr schwebt.«
»Wenn Super-Fokko die Zeit für immer anhält, geschieht garantiert kein Unheil mehr.«
»Ja«, sagt Schwammheimer, legt das Blatt zurück und schaut aus dem Fenster tief in die verschneite Landschaft hinter seinem Haus. »Allerdings, das wäre so.«
»Soll ich mal Frühstück machen?«
»Die Geschichte geht noch weiter, Fokko.«
»Und zwar?« Der Hunger kriecht in ihm hoch wie ein gefräßiger Parasit.
»Das Kind wird am nächsten Tag von einem Bus überfahren.«
»Du übertreibst, Schwamm!«
»Oder es liegt tot im Bett, einfach so, weil der Gevatter ein zweites Mal gekommen ist, um zu holen, was ihm zusteht.«
»Das ist ausgesprochen kitschig.«
»Nun ja, aber das Schicksal besitzt keinen Humor.«
Für einen Augenblick versucht Fokko, sich den Charakter des Schicksals vorzustellen: wie den einer heidnischen Gottheit, mißlaunig, wenn sie ihn in Schwierigkeiten mit Eva bringt, verschlagen, wenn sie ihn eine Uhr finden läßt, die ihn dazu verführen soll, sich gottgleich vorzukommen. Wahrscheinlich spricht der Dichter die Wahrheit.
»Ich kümmere mich um das Frühstück.« sagt er.
»Nein, auf keinen Fall, du bist mein Gast!«
»Ich muß nicht dein Gast sein…«
Aber Schwammheimer ist schon mit einem Strauß beschwichtigender Gebärden fort und kramt in der Küche. Fokko nimmt seinen Rucksack und sucht nach der Uhr. Sie steckt in der Seitentasche mit dem Taschenmesser. Er wiegt sie in der Hand, müßte nur eines der abertausend Bücher aus einem Regal ziehen, das Wunderding dahinter verstecken, und es wird kein Zufall der Welt wollen, daß Schwammheimer es jemals entdeckt.
Er steckt die Uhr zurück, sucht nach dem Tabak, der Wohnungsschlüssel liegt obenauf, als sollte er ihn erinnern: etwas zu holen, etwas zu erledigen, aber er weiß, er hat nun alle Zeit der Welt, findet das Päckchen Tabak bei einer CD von Grieg und verspürt, wie sich ihm verschiedenes Verlangen zu einem bindet. Er dreht eine Zigarette, steckt sie an, legt die Scheibe in die Anlage bei Schwammheimers Schreibtisch, startet sie, und die elegische Streichermusik entfaltet sich wie ein heilsames Fluidum im Raum. Fokko tritt ans Fenster zur Straße, die Dämmerung versteckt sich noch in den Fichten drüben, aber sie ist schon spürbar. Alle Sinne sind, so wir sie nicht bewußt steuern, auf die Zukunft gerichtet, auf das, was kommen wird: das Frühstück und die nächste Stunde, die verschenkten Gefühle und vergeblichen Worte bis an das Ende unserer Tage.
Vor der Haustür steht Schwammheimers alter Benz. Der stand da gestern wohl nicht. Ist auch nicht zugeschneit, und eine Spur führt aus der Garage, eine andere zurück unter den Wagen. Fokko nimmt einen letzten Zug aus der
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