Die Uhr der Skythen (German Edition)
genaue Zeit: drei Uhr.«
»Das ist bei jeder Uhr so.«
»Nein. Eine Stoppuhr läuft nur, wenn ich sie gestartet habe. Bis zu der Sekunde, in der ich sie anhalte. Eine Gasuhr ist nur in Bewegung, solange ich Gas verbrauche, und…«
»Du meinst?«
»Genau. Als du den Mechanismus im Zentrum in Gang gesetzt hast, begann die Uhr zu laufen. Aber die Frage ist: läuft sie jetzt ständig, oder nur, wenn du sie öffnest?«
»Wahrscheinlich letzteres.«
»Ja, weil sie nur geöffnet wirksam ist. Also eher das Modell Gasuhr. Zweitens: Läuft sie nun für immer oder nur bis an ein gewissermaßen natürliches Ende?«
»Das wäre?«
»Zum Beispiel eine komplette Drehung. Bis daß diese beiden Zeichen wieder exakt dort oben voreinander stehen.« Er hält seine Zeigefinger vor Fokkos Nase übereinander wie Stunden- und Minutenzeiger auf der Zwölf.
»Vermutlich würde sich das Zentrum dann wieder drehen, das Sonnenauge verschwindet, das Symbol der Nacht kehrt zurück, ich kann den Knopf erneut drücken und den Zauber wieder in Gang setzen.«
»Oder ich.« Schwammheimer schenkt dem Freund einen prüfenden Blick.
»Oder du«, lacht Fokko. Sparenbergs Nachlaß kommt ihm wieder in den Sinn. Vielleicht hatte der bereits Erkenntnisse über die Gesetze des Zeitstillstandes gewonnen und sie in seinen Aufzeichnungen niedergelegt. Wenn das Uhrwerk tatsächlich einen periodischen Umlauf in Gang setzt und ans Ende bringt, hat der Wissenschaftler ihn möglicherweise erlebt und beschrieben. Und womöglich ist ihm angst und bange geworden ob der Kraft der magischen Uhr, er hat sie vernichten wollen und es aus welchen Gründen auch immer nicht können, hat alles auf dem Dachboden des Gymnasiums versteckt und vergessen, ist längst verstorben und hätte das Geheimnis für immer mit sich genommen, wenn nicht der Hausmeister in den Weihnachtsferien dort oben gründlich aufgeräumt und das Gerümpel in den Container verfrachtet hätte.
»Sparenberg«, sagt er.
»Der Wissenschaftler?«
»Ja. Vielleicht hat der ja was gewußt…«
»Das wird nichts bringen.«
»…und aufgeschrieben.«
»Glaub ich nicht.«
»Wieso?«
Schwammheimer macht mit der rechten Hand eine merkwürdig verschlungene Bewegung, wendet sich ab, macht wieder ein paar Schritte in seinem Arbeitszimmer, bleibt zuletzt an der Terassentür stehen und schaut in den Garten.
»Wenn der Herr Sparenberg ein nützliches Wissen über die Uhr gewonnen hätte, würden wir davon wissen. Sollte er sich aber verirrt haben, und ist deswegen sein Nachlaß in dem Container gelandet, so gingen wir sehr wahrscheinlich mit ihm in die Irre.«
»Aber…«
»Ich gehe gern meine eigenen Wege«, sagt er, dreht sich in das Zimmer zurück und zeigt auf den Zettel auf dem Schreibtisch. »Du solltest eine bessere Zeichnung machen, Fokko, möglichst exakt…«
»Aber ich würde es doch gern versuchen…«
»Ich gebe dir vernünftiges Material. Zirkel, Geodreieck und so weiter. Dann mache ich es mir in einem Sessel bequem, du öffnest deine Uhr und zeichnest ihr Inneres. Fotografisch genau, Fokko!«
»Morgen ist Montag, Schwamm, da könnte der Container geleert werden…«
Aber Schwammheimer schaut ihn an, als hätte er auf einen Schlag die Symbolschrift der Uhr entschlüsselt. Es ist totenstill.
»Ich hab’s Fokko!« flüstert er. »Es ist banal, genial, von lächerlicher Primitivität!«
»Und zwar?«
»Wie erreicht man fotografische Genauigkeit am ehesten?«
»Mit einem Foto?«
»Sehr gut! Du klappst die Uhr auf, machst ein Foto und klappst sie wieder zu.«
»Aber…«
»Ich habe eine Digitalkamera. In zwei Minuten haben wir die Innereien der Uhr auf dem Monitor, können das Foto vergrößern, die Qualität verändern und es ausdrucken.« Er ist schon am Schreibtisch, zieht eine Schublade auf und holt eine kleine Kamera hervor.
»Es wird nicht funktionieren«, sagt Fokko und denkt an das Radio in der Wohnung, das er gestern voll aufgedreht hat, um Eva ihre Liebschaft zu versüßen. Der Lärm war erst zu hören, als er auf der Straße die Uhr geschlossen hatte.
»Probier es aus!« Schwammheimer hält ihm die Kamera hin.
»Es wird nicht gehen«, murmelt Fokko, öffnet die Uhr und legt sie auf den Tisch. Dann dreht er sich um. Schwammheimer steht da wie ein stummer Diener, die Wachsfigur des verkannten Dichters trägt einen Fotoapparat in der geöffneten Hand, und in seinem Blick steht eine brennende Neugierde. Existiert sie auch in diesem Augenblick? Existiert sie im nächsten?
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