Die Uhr der Skythen (German Edition)
sacht spürt er den Puls in den Schläfen pochen, und in den Hauseingängen und hinter den Grundstücksecken lauert die Einsamkeit wie ein vor Hunger toll gewordenes Raubtier. Er ist in dieser irrsinnigen Zeitlosigkeit gefangen, die Nase schmerzt vor Kälte, und er sehnt sich in seinen Radiosessel, wünscht sich den Band über die Malerei des Goldenen Zeitalters auf den Schoß, ein barockes Konzert in den Kopf und Eva…
Schwammheimer ist nirgends zu sehen. Nicht unter den kristallisierten Passanten, nicht in einer der Schattenecken, aber viel weiter als bis zum Kaufhaus bei der Post kann er es zu Fuß nicht geschafft haben. Fokko geht auf der Kreuzung umher, schaut in die Fahrzeuge und die querlaufenden Straße hinauf und begreift, daß er vielleicht noch Stunden suchen muß. Gottlob wird es nicht eher dunkel werden, als bis er seine Uhr wiederhat. So lange er sie nicht schließt, wird es immer halb elf bleiben, immer Sonntag, immer kalt.
Wenn aber Schwammheimer wegen der Distanz oder aus einem anderen Grund ebenfalls eine Art Prägung auf den Zauber besitzt, läuft er vielleicht just vor ihm weg, ist schon auf dem Weg zu irgendeiner Kasse, in die er greifen kann, oder schließt im nächsten Moment die Uhr. Dann wird Fokko der Reihe nach von einem Motorradfahrer gestreift, von einem Bäckerwagen zur Seite geschleudert und von einem Bus überrollt.
Er geht auf den Bürgersteig zurück und stellt sich vor die Fenster der Sparkasse. Drinnen greift ein alter Mann nach den Scheinen, die aus einem Geldautomaten hervorgucken. Es ist fürchterlich einfach. Schwammheimer hat Recht. Zur Not muß er nach Limbergen und dort auf ihn warten. Er schaut zum Neumarkt. Mit einem Wagen, selbst wenn er untertan wäre, käme man unmöglich voran, denn die Straßen sind vollkommen mit Spielzeugautos zugestellt. Sein Fahrrad steht zu Hause, das könnte er sich holen und bei der Gelegenheit unbehelligt nach Eva sehen, was sie so macht am Sonntagmorgen um halb elf. Aber dafür würde er den Schlüssel benötigen, der im Rucksack steckt.
Also geht er den Weg zurück, nimmt sich alle Zeit, sucht in den Hinterhöfen, probiert an jeder Tür und schaut in jedes Fahrzeug. Von Schwammheimer keine Spur. Er schätzt, daß er seit einer Stunde unterwegs ist, aber die Bahnhofsuhr hat sich seither nicht bewegt, die Taxis stehen ungerührt in der Schlange. Er wird dennoch hungrig werden und müde, wird sich ein freies Hotelzimmer nehmen und tief und fest schlafen, während die Menschen im Bistro bis in alle Ewigkeit frühstücken. Und er wird altern.
Von der Mobilwurst aus nimmt er neu Maß. Es gibt nicht viele Möglichkeiten. Richtung Innenstadt ist er gewesen. Rechts in die Eisenbahnstraße und am Bahngelände entlang scheint unwahrscheinlich, da kommt man nirgends richtig hin. Links hinter dem Kino her und auf den Wall ist unüblich. Was bleibt, ist allerdings plausibel: der Weg links vor dem Hotel vorbei und über die Kreuzung, an der das Taxi wartet, ist Schwammheimers Weg. So geht er, wenn er nach Hause will.
Den maximalen Radius will er zuerst mit raschen Schritten bemessen, vermutlich bis zum Marienhospital, zur Johanniskirche, höchstens die Viertelstunde, die Schwammheimer zur Verfügung stand, sich zu entfernen, aber Fokko, so hat er das Gefühl, hat längst jegliches Zeitmaß verloren, alle Uhren stehen still, nichts bewegt sich mehr, nichts schlägt ihm den Takt: nur sein irritiertes Herz.
Die beleibte Dame auf der Rückbank der Taxe starrt noch immer verzagt aus dem Wagen, als wäre die Seitenscheibe die undurchlässige Membran zwischen dem Reich der Zeit und dem der Zeitlosigkeit. Behutsam nähert sich Fokko der vierspurigen Straße, springt dann leichtfüßig durch den stehenden Verkehr, der eigentlich ein fließender ist. Er glaubt zwar nicht, daß Schwammheimer die Uhr wird schließen können, sonst hätte er es wohl längst mal getan, wenn aber doch, so wäre das schöne Leben schnell unter einem Tanklastwagen beendet, und er würde nichts weiter erfahren über die Geheimnisse der skythischen Uhr, über Evas Affäre und ob sich die junge Frau womöglich verletzt, wenn sie endgültig über die Reisetasche fällt.
Hier sind nur wenige Menschen unterwegs. Schwammheimer ist nicht unter ihnen, nicht in den Hofeinfahrten, ist vielleicht unter einem banalen Vorwand in eine Etagenwohnung eingedrungen und hat jede Frage durch das Öffnen der Uhr im Keim erstickt.
Dann finde ich ihn nie, überlegt Fokko erschrocken, er steht bei einem
Weitere Kostenlose Bücher