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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Cordes
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Gegenständen, die er mit sich nehmen wird, die Ausstattung für eine erste unbestimmbare Zeit, als aber das Kyrie erklingt wie ein unschicklicher Jubelgesang inmitten der universalen Schwermut, ist er schon in einen totenähnlichen Schlaf versunken, in dem irgendwann spät ausgerechnet Schwammheimers Mutter auftaucht, zuerst ihr Namensschild an der Haustür, von dem er im Traum nicht weiß, ob es sich dort noch immer befindet oder ob er es nur erinnert, es glänzt in der Morgendämmerung matt und wertvoll wie Gold: Katharina Schwammheimer . Es kommt ihm lächerlich vor, das Schild, der Name wie aus einem satirischen Roman, da öffnet sich die Tür, eine ältere Dame kommt aus dem Haus, die wenigen Stufen hinab auf ihn zu mit einem merkwürdig eingefrorenen Lächeln auf den rotgeschminkten Lippen, ehe sie jedoch mit einem letzten Schritt bei ihm ist und ihn berühren könnte, löst sie sich auf wie eine der Zigarrenwolken ihres Sohnes, das Bild kippt und schwenkt und wackelt wie mit einer schlichten Kamera aus der Hand gedreht, und als es sich endlich wieder auf der Haustür fängt, öffnet sich diese abermals. Frau Katharina Schwammheimer erscheint auf der Schwelle, kommt auf ihn zu und löst sich in Luft auf.
    Das wiederholt sich unzählige Male, allerdings verjüngt sich die alte Dame immerfort, in jeder Sequenz vielleicht um ein Jahr, die Farben verlieren sich allmählich, und irgendwann öffnet sich zwar die Tür und eine junge Frau in einem grauen Kostüm tritt aus dem Haus, bleibt aber auf der Treppe stehen, blinzelt in die Sonne, ihr Lächeln hat etwas Wehrloses, und ihre Lippen sind anthrazitfarben. Fokko erinnert sich im Traum daran, daß es dieses Bild, das für eine Weile stabil bleibt, ehe es sich auflöst, als drehe jemand gemächlich das Licht aus oder als werde es Nacht vor dem Haus der Frau Schwammheimer, daß es dieses Bild tatsächlich gibt: es ist eines der Fotos in Schwammheimers Kammer, ein Bruchstück seiner persönlichen Erinnerungsarbeit.
    Im Traum denkt er jetzt, wie merkwürdig es ist, sich im Traum zu erinnern oder gar über das Phänomen der Erinnerung nachzudenken, und offensichtlich wird ihm von dieser Art Paradoxie übel, es besetzt ihn ein Gefühl wie in einem Schlauchboot auf hoher See, und wieder scheint ihn das Gedächtnis durch seine Träume zu leiten, er erinnert sich, daß er jüngst schon einmal in einem Boot unterwegs gewesen ist, der selben Übelkeit ausgesetzt, den selben Zweifeln: im Container der Silvesternacht.
    Ehe ihn jedoch das Unwohlsein erwachen läßt, ist es eine Berührung, eine Hand, die sich auf sein Bein legt, und Frau Schwammheimer flüstert seinen Namen oder was Ähnliches, das Erwachen ist schwierig: wie man versucht, sich aus einem klebrigen Brei zu erheben. Er streckt die Glieder ein wenig, und als es ihm endlich gelingt, die tonnenschweren Lider zu bewegen, erkennt er, es ist Eva und es ist die Wirklichkeit.
    Sie hockt neben dem Sessel und streicht über sein Bein.
    »Mein Fokko«, sagt sie zärtlich und ihre Hand findet seine Mitte und dort zur Ruhe.
    »Wie spät ist es?«
    »Kurz vor drei.«
    Kein weiteres Wort will er mit ihr wechseln, hat vielleicht schon fünf oder sechs Stunden im Sessel geschlafen, aber die Müdigkeit hält ihn mit unveränderter Gravitation gefangen. Ehe sich allerdings seine Augen wieder schließen, ist sie von seiner Seite hoch, durchmißt den Raum mit ausgreifenden Schritten, ist plötzlich fort und wieder zurück, stellt sich vor ihm auf wie Salome vor ihren Stiefvater und trägt unversehens nicht mehr auf ihrem Leib als die athletischen Dessous.
    »Schwamm hat behauptet, du hättest eine Zauberuhr«, sagt sie in derselben Beiläufigkeit, mit der sie das elastische Geschirr vom Oberkörper montiert. Der Dichter hat sich also wieder einmal als großartige Plaudertasche erwiesen. Ihre Brüste schauen ihn interessiert an, aus ihren Augen strahlt ein warmes Licht, und ihr Slip scheint seine Bestimmung ganz eigenständig aufzugeben, Eva wartet nur, bis er auf ihre Füße gerutscht ist, dann gibt sie ihm mit einer Ballettfigur einen kecken Schwung, der ihn aus der normalen Umlaufbahn in die kalte Weite des Universums entläßt. Es ist die Sprache, mit der sie ihn aus der Wohnung geworfen hat. Womöglich ist es auch dieselbe Emotion, die sie treibt.
    »Wo ist sie?« fragt sie.
    Er beugt sich zur Seite aus dem Sessel und holt die Uhr aus dem Rucksack. Eine grüne Styroporflocke segelt zu Boden. Sie nimmt ihm die Zauberuhr aus der Hand

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