Die Uhr der Skythen (German Edition)
und schaut sie von allen Seiten an. Die Blöße ihres Körpers ist ganz und gar unerotisch.
»Wie geht das?«
Sie hält ihm die Uhr hin. Er öffnet sie, sie erstarrt in einer, wie er findet, unvorteilhaften Pose, mit dem lüsternen Blick, der vorgeschobenen Zunge auf den Lippen und den leicht gespreizten Beinen wie aus einem pornographischen Wachsfigurenkabinett. Er schließt die Uhr.
»Das war’s schon«, stellt er fest.
»Was?«
»Es ist zu einfach«, sagt Fokko. »Man glaubt es nicht.«
Sie streckt sich ins Kreuz und stemmt die Fäuste in die Hüften. Auf ihren Lippen ist ein ironisches Lächeln entstanden, aber ehe sie etwas sagen könnte, hat er die Uhr abermals geöffnet. Sein letztes Wort verklingt noch in ihm, dann ist diese heilsame Stille da, die er nicht einmal im Traum erfährt.
Mühevoll erhebt er sich. Seine Muskeln sind verspannt, die Knochen eingerostet, und die Müdigkeit steckt in ihm wie eine Bleivergiftung. Er schleicht an Eva vorbei, als könnte sie ihm auch jetzt mit ihrer kampfeslüsternen Nacktheit gefährlich werden. Er macht ein paar Schritte, betrachtet die unbekleidete, in gespielter Empörung befangene Frau in der Mitte seines Zimmers aus der Distanz. Sie ist etwas wie diese künstlerischen Fotografien für die Gourmets martialischer Erotik, aber für ihn strahlt sie nichts weiter aus als eine arktische Kälte.
Behutsam tritt er näher, legt ein Ohr an ihre tadellose Brust und horcht nach dem Schlag ihres Herzens. Es schlägt nicht. Sein eigenes ist gegenwärtig das einzige auf der Welt, das den Takt hält. Und dennoch stirbt sie nicht. Was wäre, wenn er sie jetzt verletzen würde? Käme der Schmerz unmittelbar mit der Zeit zurück? Oder käme er überhaupt nicht? Mit zwei Fingern faßt er nach ihrer linken Brustwarze und drückt für einen Moment kräftig zu. Dann geht er ans Schlafzimmerfenster und schaut in die Nacht. Ein Radfahrer steht unter einer Laterne in seiner Fahrt erstarrt. Das Licht lastet wie ein milchige Flüssigkeit auf ihm, und für Fokko ist die Bewegung des Fahrrads nicht unterbrochen, er denkt sie weiter, er setzt sie in seiner Vorstellung fort, es ist, als dränge die Zeit in ihm, endlich wieder das ihrige zu tun.
Er altert jetzt ganz allein, entfernt sich mit jeder Sekunde aus seiner Generation. Wenn er bei geöffneter Uhr auf eine Reise ginge, die Welt umrunden würde, weil sie ihm nun allein gehört, und käme nach zwei Jahren wieder, dann wäre er um zwei Jahre älter geworden als Eva, als das Mädchen Merreth. Irgendwann könnte er gar genauso alt sein wie Schwamm.
Es ist gespenstisch.
Die Uhr legt er geöffnet auf ihren Nachtschrank neben den profanen Digitalwecker, der just auf fünf Minuten nach drei steht, schlägt die perlmuttseidene Bettwäsche zurück, dann geht er zu ihr rüber, umfängt sie mit dem einen Arm unterhalb ihrer Achsel, mit dem anderen unter dem Gesäß, schultert sie wie ein Unfallopfer, ihr Kopf lehnt auf seiner Schulter, aber er schmiegt sich nicht an, sie besitzt einen fremdartigen Tonus, ist nicht so schwer und schlaff wie eine Ohnmächtige, aber auch nicht so steif und leicht wie eine Schaufensterpuppe. So trägt er sie zu Bett und betrachtet sie eine Weile. Die Haltung ihrer Gliedmaßen ist unnatürlich, aber sie besitzen eine gewisse Biegsamkeit, er dreht und drapiert an ihnen herum, kommt sich freilich unversehens wie ein Bestatter vor, legt die Seidendecke über ihre schlafenden Brüste, gibt ihr einen zagen Kuß auf die Stirn und tritt an das Fenster zurück.
Der Radfahrer durchfährt noch immer bewegungslos den Lichtkreis der Laterne. Wie kann das gehen? Der Strom fließt doch, und wenn er es auch in Lichtgeschwindigkeit tut, so ist es allemal eine Bewegung und kein Zustand. Vielleicht, überlegt er, hält die Zauberuhr die Zeit überhaupt nicht an, vielleicht ist sie für alle anderen nur extrem verlangsamt und der Strom da draußen und in der Wohnung fließt ebenfalls verlangsamt durch die Leitungen, durchaus aber noch schnell genug? Dann müßte ihr Herz doch schlagen, im Minutentakt vielleicht, oder einmal pro Stunde.
Merreth kommt ihm in den Sinn. Wenn man nur eine zweite Person in diese merkwürdige Zwischenwelt mitnehmen könnte. Er spürt die Wehmut des Abschieds, ist sich mit einem Mal seiner Entscheidung vollkommen sicher, das Glück breitet sich warm in seinen Adern aus, und er wischt über die Fensterscheibe, als könnte er auf diese Weise den Weltenlauf wieder in Gang setzen. Er wird Eva verlassen,
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