Die Uhr der Skythen (German Edition)
Intimitäten des Dichters. Und zerrt Papiere aus der Innentasche seiner Rockerjacke, faltet und knickt an ihnen herum, bis er der Neugier aller sicher sein kann, aber erst, als Schwammheimer den Stift beiseite, die wankende Hand hinzu gelegt und einen amüsierten Blick erhoben hat, beginnt Kalle zu zitieren. Also, der Schwamm gehöre zur Familie der Porifera, ein primitiver Rückgratloser bis etwa zwei Meter Größe, sackförmig, krusten-, strauch-, becher- oder pilzförmig, von außerordentlich einfacher Organisation, dessen Fortpflanzung sich geschlechtlich oder ungeschlechtlich vollziehe, im ersten Falle in Zwitterform, im zweiten, interessanteren, durch die wohlbekannte innere Knospung.
»Frohes neues Jahr!« sagt Schwammheimer.
»Innere Knospung!« brüllt Kalle, dreht und reckt den roten Kopf in alle Ecken, um auch die kleinste Reaktion nicht zu verpassen, sein krankes Gelächter erfüllt den Raum wie das geile Kläffen eines Kampfhundes, und Fokko wünscht, unbedingt und sofort woanders zu sein. Die Uhr steckt in seinem Rucksack. Es wäre eine Sache von Sekunden, sie zu öffnen. Kalle Wilsum erstarrte in seiner peinlichen Grandiosität, Schwamms Hand fände ebenso Frieden wie Evas umherirrendes Herz, er selbst indes wäre schon ein beträchtliches Stück Richtung Norden unterwegs, ehe dieser selbstverliebte Zirkus sein irrwitziges Programm fortsetzen dürfte.
»Ich geh’ dann mal«, sagt er, trinkt den Rest der Schokolade und legt ein Zweieurostück auf den Tresen.
»Wohin?« Eva setzt einen Finger auf die Münze und schiebt sie zu ihm zurück.
Darüber hat er nicht so recht nachgedacht. Zu Schwammheimer will er auf keinen Fall, der wird sowieso bis tief in die Nacht mit Regierungsgeschäften beschäftigt sein, seine eigene Wohnung ist tabu, aber er müßte einiges zusammenräumen, einen Koffer voll vorab, und den Rest später holen. Er schiebt die zwei Euro zurück.
»Fokko«, sagt Eva, zapft ein Bier fertig und stellt es Kalle hin, der die Papiere mit den ergötzlichen Erklärungen zu Schwammheimers Abstammung in die Jacke stopft, »tu, was du für richtig hältst.«
»Ja.«
»Aber überschlaf die Sache. Zumindest eine Nacht, am besten ein Vierteljahr.«
Ihr Lächeln beschreibt dieses Mal so etwas wie Zuneigung, allerdings wohl nicht ohne die Spur Anzüglichkeit, die Fokko erkennt, aber nicht versteht.
»Ich glaube, ich habe mich bereits entschieden«, sagt er.
Sie schüttelt den Kopf.
»Laß uns in Ruhe reden – über alles.«
»Wie meinst du das?«
»Wie ich es sage.«
»Gut.«
Er stellt sich irgend zurecht und legt die Hände an die Kante des Tresens wie jemand, der auf das Wechselgeld wartet oder auf Post, die er austragen soll.
»Nicht jetzt«, sagt sie und schaut sich um, »nicht hier.«
»Wo denn?«
»Bei uns.«
Sie lächelt nicht, es leuchtet kein sonderliches Licht in ihren Augen, sie steht ihm einfach gegenüber und schaut ihn an.
»Und wann?« fragt er.
»Nach meinem Dienst.«
Er schüttelt den Kopf.
»Das ist zu spät, ich muß morgen früh arbeiten.«
»Du rufst Dick an und nimmst einen Tag Urlaub.«
»Hab’ ich noch nie gemacht.«
»Dann gehst du jetzt in unsere Wohnung, legst dich in unser Bett…«
»Unser Bett?«
»Ja. Und wenn ich komme, dann…«
»…dann schlafe ich. Du glaubst ja nicht, was ich in den letzten achtundvierzig Stunden alles erlebt habe.«
»Dann schläfst du eben, ich wecke dich.«
Es ist wieder mal ein Spiel. Sie tut nichts, sie denkt nichts und sie fühlt nichts, ohne ihren Vorteil im Auge zu haben. Von Merreth kann sie nichts wissen, und wenn, so wäre es ihr gleichgültig oder eben recht. Aber woher? Davon weiß niemand außer ihm. Nicht einmal Merreth selbst. Und die Uhr? Eigentlich nicht. Eva hat vorhin beiläufig erfahren, daß er überhaupt eine Uhr besitzen soll, aber nicht mehr, als daß es vielleicht eine alte ist, oder ein, wie Schwammheimer klugerweise behauptet hat, pseudo-antiker Neubau. Das schöne Spiel kommt ihm aber gelegen, er braucht noch ein Quartier für diese eine Nacht, und in der Wohnung muß er sowieso zusammenpacken, was er mitnehmen will.
»Es ist gut«, sagt er. »Ich gehe erst einmal zu mir.«
Sie beugt sich vor, packt ihn mit der Hand im Nacken, zieht ihn zu sich her und gibt ihm einen Kuß auf den Mund.
Als er geht, nickt ihm Schwammheimer lächelnd zu. Kalle wischt sich mit der Hand über die Lippen, rülpst vernehmlich und deutet mit dem Zeigefinger in das leere Bierglas. Eva eilt, kaum daß der
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