Die Uhr der Skythen (German Edition)
Viertel vor vier. Natürlich. Ohne jedes weitere Wort könnte er verschwinden, Eva in dieser unbehaglichen Haltung zurücklassen und die Uhr erst unterwegs schließen, aber der Abschied soll spürbar sein, für beide, so empfindet er, überdies ist er noch immer totmüde. Die Sachen sind gepackt und er kann noch eine gute Stunde schlafen. Da erst fällt ihm ein, daß er alle Macht hat, über die Zeit zu verfügen. Er wird die Uhr geöffnet auf der Fensterbank liegen lassen, Eva sprachlos in ihre Seide gehüllt, wird so lange schlafen, bis er erwacht, und wenn es tausend Stunden sind, so wird es doch Viertel vor vier sein. Das ist genial, er verpaßt nichts, kommt nie zu spät, ist immer ausgeschlafen.
Wie jemand nach Jahr und Tag in einem Moment aus der einen biographischen Epoche in die andere tritt, von einem Kontinent auf einen anderen wechselt, aus Gefangenschaft in Freiheit, aus dem Koma ins Bewußtsein, so erwacht Fokko van Steen irgendwann in eine kosmische Stille und Zeitlosigkeit. Es ist, als trete er aus einem Traum in einen anderen, keiner der beiden indes vermag den Anspruch auf die Wirklichkeit einzulösen, den Fokko spürt, als er die Augen öffnet.
In den Fenstern steht ein schwaches, pfirsichfarbenes Licht. Nichts ist zu hören. Eva liegt an seiner Seite wie eine lebensgroße Puppe, und der Wecker zeigt Viertel vor vier. Da, wo er sich eben noch aufgehalten hat, lag ein warmer Sonnenschein über dem Land, und der Wind strich über die Wiesen und durch die Baumkronen, aus denen Vogelgezwitscher zu hören war. Er erinnert sich nur, daß ihm jener Fleck sehr vertraut war, aber nicht, woher. Dennoch kommt ihm nun der Traum wirklicher vor als die untote Gespensterwelt, in die er erwacht ist.
Als er aufsteht, ist alles wie zuvor, aber er hat einen unbestimmten Zeitraum geschlafen, fühlt sich frisch und wird niemals erfahren, wie lange er geruht hat. Gegenüber der realen Zeit hat er keine Sekunde verloren, aber er kann sich nicht vorstellen, daß seine innere, seine biologische Uhr nicht weitergelaufen wäre. Er ist, als er sich mit der Zauberuhr auf die Bettkante setzt und Evas Hand wieder auf sein Bein legt, eine fragliche Frist gealtert, hat sich um ein paar Stunden vielleicht aus der Zeitgenossenschaft entfernt, auch wenn es niemand je erfahren wird. Es ist eine unheimliche Vorstellung: wie sich jemand, weil er alt ist oder krank, schleichend aus der Wirklichkeit entfernt und der Demenz anheimfällt.
Er schließt die Uhr.
»…ganz für mich da«, sagt Eva, hat keinen ihrer Impulse verloren, sucht mit ihrer Hand auf seinem Bein nach so etwas wie künftiger Gewißheit, die sie vor allem wohl für sich selbst sucht, aber ehe sie wieder von den legendären Möglichlichkeiten der Zauberuhr schwärmen kann, hat Fokko ihre Hand das zweite Mal auf das Bett gelegt, hebt ihr die Seide über die entblößte Brust und gibt ihr einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. Er weiß, es ist der letzte.
»Schlaf jetzt«, sagt er, »du bist totmüde. Morgen früh gehe ich zur Tankstelle wie immer. Nach der Arbeit komme ich ins Crocodile , dann können wir über alles reden.«
»Ja«, sagt sie erschöpft, schließt die Augen und ist eingeschlafen.
Der Wecker zeigt dreizehn vor vier.
Im Badezimmer entkleidet er sich. Das Spiegelbild seines nackten Körpers ist wie diese merkwürdig disparate Welt unter dem Zauber der Uhr: dem wirklichen Leben ähnlich, aber keineswegs identisch. Er hätte sich Evas kalkulierte Zärtlichkeit nicht gefallen lassen dürfen, es ist, als hätte er sich selbst betrogen – und Merreth.
Auf der Ablage unter dem Spiegel liegt der Siegelring. Er nimmt ihn, steckt ihn auf und betrachtet seine Hand mit dem protzigen Ding wie die eines Fremden. Für einen Moment spielt er mit dem Gedanken, den Ring in der Toilette zu versenken oder ihn Eva heimlich auf den Finger zu schieben, aber sie wird keine Erkenntnis daraus gewinnen, er indes ist sich nun umso sicherer, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Er legt den Ring zurück, dreht die Dusche auf und wartet auf das heiße Wasser.
Kapitel 8
Die Kälte ist sichtbar.
In den schmutziggrauen Landschaften, die ein eiskalter Wind an die Waggons modelliert hat, in den flüchtigen Atemwolken der wenigen Fahrgäste, in ihrer zusammengezogenen Haltung, unter den Arbeitsstiefeln des Rangierers, der jenseits der Gleise den orangenen Helm abnimmt, um sich am Kopf zu kratzen, und Fokko ist sich sicher, das Knirschen des verharschten Schnees
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