Die Uhr der Skythen (German Edition)
unter seinen Schritten zu hören.
Es geht ein Ruck durch den Zug. Die Bahnsteigsuhr zeigt zehn vor neun. Es ist auf jeden Fall genau der Weg, den Merreth tags zuvor genommen hat, wenn auch eine andere Zeit, aber das erste Stück hat er sie gewissermaßen begleitet. Die Winterlandschaft setzt sich in Bewegung, zunächst eine lange Häuserzeile, dann Hinterhöfe, Garagen und der Bahnsteig des Hasetorbahnhofs, auf dem er die Uhr das erste Mal ausprobiert hat. Er holt sie aus der Seitentasche des Rucksacks, hält sie in der Hand wie eine Fernsteuerung für die ganze Welt und überlegt, ob er mit der Zeit den Zug nicht an derselben Stelle anhalten soll, an der er ihn gestern verlassen hat. Er kann nach seinen eigenen Fußstapfen in der Böschung suchen, den Weg wiederholen, ohne daß ihm etwas davonläuft, aber es wäre unsinnig, im Kreis zu gehen.
Er schließt die Augen, hört nichts als den rhythmischen Schlag der Waggonräder auf den Nahtstellen der Gleise. Der Zug trägt ihn jetzt aus der Stadt fort. Das Glück, das er sich versprochen hat, ist ausgeblieben, sitzt vielleicht noch frierend auf dem Bahnsteig, drückt sich an der Tankstelle herum oder kuschelt sich eben an Evas kulanten Körper. Dennoch ist er froh, daß er fährt. Nicht allein der vagen Aussichten wegen, die er sich an Merreths Seite angedichtet hat. Er wird in Rheine umsteigen, nach Emden fahren, vom Bahnhof den Bus nach Petkum nehmen und dort auf die Fähre nach Ditzum warten. Und auf Fox, den er ewig nicht gesehen hat, aber der wird ihn auf der Stelle erkennen, wird ein komisches Gesicht ziehen, aus seiner Kapitänsbude springen, über das Wasser laufen, eine Schleife zickzack auf die Ems schreiben, ehe sie im Fährhaus versacken und die restlichen Fahrten für den Tag eingestellt sind: aus betrieblichen Gründen.
Für eine Sekunde verfängt sich der Schall an engen Wänden. Fokko öffnet die Augen und sieht noch eben, wie der Zug den Zipfel Wald passiert, in dem er gestern verschwunden ist, ohne daß Merreth mehr von ihm gewußt hat, als daß ein junger Mann im Bahnhof in ihrer Nähe war, als sie zu stürzen drohte.
Der Zug rauscht unter einer Autobahn hindurch und verläßt die Stadt. Vielleicht gibt es die Parallelwelten schon immer und sowieso, und eines Tages, wenn er wieder einmal die Zeit angehalten hat und durch die erstarrte Welt gespenstert, kommt ihm hinter einem Deich oder um eine Häuserecke jemand entgegen, ein freundlich grüßender Schutzengel oder ein mißlauniger Untoter, jener in segensreichen Geschäften unterwegs, dieser auf dem Weg, die Zeit totzuschlagen. Vielleicht läßt sich Leben und Schicksal des Menschen nicht anders erklären, vielleicht existiert er bloß in einem überdimensionalen Terrarium oder in einer Geschichte von epischer Unendlichkeit, nie ist er Herr seines Weges, trotz der eingebildeten Freiheit seines Willens nichts als eine Figur in einem transzendentalen Spiel.
Kann sein, denkt Fokko und verstaut die Uhr im Rucksack. Er wird sie vergraben. Weit hinten im Garten, eingewickelt und verschnürt in eine Blechdose gepackt und so tief in die Pogumer Erde, daß sie in tausend Jahren nicht gefunden wird. Dann wird er sich eine Arbeit suchen, Tankstellen gibt es auch im Rheiderland, wird sich niemals wieder weiter entfernen als bis Leer oder Emden, allenfalls eine Reise mit dem Schiff unternehmen nach Borkum, Helgoland oder mit einem Frachter nach Island, wo es die heißen Quellen gibt.
Der Zug hält in Ibbenbüren. Ein paar Leute steigen aus. Eine uralte Frau an einem Stock geht an seinem Abteil vorbei und schenkt ihm einen giftigen Blick. Ein Pfiff ist zu hören, der Bahnhof gerät in Bewegung, eine belebte, vierspurige Straße wird seitlich weggezogen und die Rückansichten der Häuser, die Gärten, die Höfe, Schuppen und Garagen, alles verschwimmt in seinen schweren Augen.
Punkt sechs war er am Morgen an der Tankstelle gewesen, der Hahn leuchtete kunterbunt und Dick schraubte schon in der Halle nervös an einem Satz Winterreifen für die gnädige Frau Professor, die am Tag nach Neujahr morgens um halb sieben ihren lippenstiftroten Renner abholen wollte, um genau dann auf die Insel der Guten zu flitzen, wenn das Gros noch in den Betten lag und die Neureichen die Koffer packten: antizyklisch, Dicki, mein Schatz, gegen den Strom und auf selbeigenen Fährten, gab ihm einen kameradschaftlichen Klaps auf die ölverschmierte Schulter und stakste auf Stöckelschuhen durch den harschen Schnee in ihre rechteckige
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