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Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out

Titel: Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natsuo Kirino
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und Yoshië ließ den Kopf hängen.
    Jūmonji stand unschlüssig zwischen ihnen und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
    »Besorgen Sie Kartons. Und dann machen wir es wie gehabt: Sie fahren nach Kyūshū und werfen alles in die Verbrennungsanlage!«
    »Wollen Sie das wirklich tun?«
    »Ja. Es bleibt uns nichts anderes übrig.« Masako versuchte zu schlucken, aber der Speichel blieb ihr im Hals stecken und wollte einfach nicht herunterrutschen. Wie die Wirklichkeit, die sie nicht wahrhaben wollte.
    »Na, dann fahr ich mal Kartons holen.« Jūmonji richtete sich auf, sichtlich froh darüber, von hier wegzukommen.
    Masako sah ihm an, dass er sich am liebsten ganz aus dem Staub gemacht hätte. Ihn hatte längst der Mut verlassen, und er wollte sich diesem ganzen Schlamassel nur noch entziehen. Deshalb baute sie vor: »Damit wir uns richtig verstehen: Abgehauen wird erst, wenn das hier erledigt ist, kapiert?«

    »Ja, klar.«
    »Es gibt nämlich noch Arbeit zu tun!«
    »Ja, ja«, nickte Jūmonji, etwas verstimmt über Masakos Hartnäckigkeit.
    »Was ist jetzt mit dir, Meisterin?« Masako drehte sich zu Yoshië um, die immer noch zusammengesunken auf dem Boden saß und Kunikos Leiche anstarrte.
    »Gut, ich mach’s. Und mit dem Geld, das ich dafür kriege, zieh ich dann sofort um.«
    »Das kannst du halten, wie du willst.«
    »Und was wirst du danach tun? Wohin willst du fliehen?«
    »Fürs Erste bleib ich hier und mach weiter wie bisher.«
    »Warum denn das!«, rief Yoshië entsetzt.
    Masako antwortete nicht. Beziehungsweise, sie hatte Yoshië kaum zugehört. Denn sie musste immer wieder an die Worte denken, die Jūmonji vorhin geäußert hatte: »Tja, das heißt dann also, dass ich der Einzige bin, der ihn je gesehen hat, nicht wahr?«
    Hatte sie selbst diesen Satake nicht auch schon irgendwo getroffen? Diese Frage ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf.
    »Also, dann will ich mal. Bin bald wieder zurück.«
    Nachdem Jūmonji gegangen war, band Masako sich wie gewohnt die Vinyl-Schürze um. Dann sagte sie zu Yoshië, die immer noch zusammengesunken auf dem Boden saß: »Stell das Band auf achtzehn, Meisterin!«

8
    Kazuo rannte die scheppernde Eisentreppe des Wohnheims hoch. Oben angekommen blieb er auf dem Treppenabsatz stehen und sah sich in der Gegend um. Im Garten des Bauernhauses direkt unter ihm hing noch Wäsche an der Leine, die man versäumt hatte hereinzuholen und die vom kalten Wind gebeutelt wurde, dass einen fröstelte. Das bläulich weiße Licht der Straßenlaterne auf dem schmalen Weg vor dem Wohnheim fiel auf wilde Chrysanthemen, die aufrecht zu braunem Stroh verdorrt waren. In der langen Dämmerung der Tage zwischen Herbst und Winter sah alles einfach nur trostlos aus.
    In São Paulo würde es jetzt bald Sommer sein. Das Heimweh versetzte Kazuo einen Stich ins Herz. Sehnsüchtig dachte er
an die Sommerabende zu Hause. Choro-Klänge an jeder Straßenecke, der Duft von Blumen und vor sich hin köchelnder Feijoada, schöne Frauen in weißen Sommerkleidern, spielende Kinder in den Hintergassen, die Hölle im Fußballstadion, wenn die Santos-Fans ihre Mannschaft anfeuerten. Was machte er bloß hier in Japan, so weit weg von all dem?
    Das sollte das Heimatland seines Vaters sein? Kazuo sah sich erneut in der Gegend um. Alles, was man von der in Düsternis versinkenden Landschaft noch erkennen konnte, waren Lichter von Häusern, in denen völlig fremde Menschen wohnten. Etwas weiter entfernt sah er die Lunchpaket-Fabrik, in deren Fenstern blauweißes Neonlicht aufflackerte. Das sollte der Ort sein, an den er gehörte?
    Plötzlich schossen ihm Tränen in die Augen. Kazuo stützte die Ellbogen auf das schwarze Eisengeländer um den Außenflur des Wohnheims und vergrub sein Gesicht in beide Hände. Sein Zimmerkamerad war sicher schon zurück und saß vor dem Fernseher. Kazuos Privatsphäre beschränkte sich auf diesen Flur und die obere Hälfte des Etagenbetts.
    Ihm fielen die beiden Vorsätze ein, die er als Prüfungen betrachtet hatte. Genau genommen waren es drei gewesen. Erstens: zwei Jahre lang hier in der Fabrik zu arbeiten, um genügend Geld für ein Auto zu sparen. Zweitens: Masako dazu zu bringen, ihm ganz und gar zu verzeihen. Und drittens: gut genug Japanisch zu lernen, um das erreichen zu können. Letzteres war der einzige Punkt, aus dem etwas zu werden schien. Aber was nutzte ihm das, wenn die Person, die er mithilfe dieser Sprache um Verzeihung bitten wollte, seit jenem Morgen nicht

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