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Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)

Titel: Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaétan Soucy
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die Geschichte von ihrem totgeborenen Kind anvertraut. Aber im letzten Augenblick hielt die Scham sie davon ab, und fast ungeschmälert kehrte ihre Heiterkeit zurück. Dann kam der Moment, das Café zu verlassen – jene Minute, in der schweren Herzens die Mäntel zugeknöpft und die entscheidenden kleinen Sätze gesagt werden, die noch am längsten im Gedächtnis nachhallen, weil sie, scheinbar ohne daran zu rühren, im Kurzen wiedergeben, was man in den vergangenen Stunden gern mutig genug gewesen wäre auszusprechen. Sie sagte zu ihm:
    »Ich weiß, wem Sie ähnlich sehen. Gerade fällt es mir ein. Mit Ihrem Schnäuzer und dieser Stirn sehen Sie aus wie Guy de Maupassant. Doch, doch, genau so.«
    Er kannte den Mann nicht, und die Einfachheit seines Eingeständnisses rührte Mademoiselle Clément.
    Sie gingen zu Fuß nach Hause, und ihre Schritte hallten durch die stillen Straßen wie durch einen Korridor. Clémentine schaute zu Boden oder weit in die Ferne oder in den Himmel, von einem einzigen Verlangen beseelt: in das Gesicht des Hauptmanns zu schauen. Doch sah sie ihn nurausschnittweise im Profil, denn sobald er sich zu ihr drehte, wandte sie sich von ihm ab. Ihr war aufgefallen, dass er auf der zur Straße gerichteten Seite des Bürgersteigs ging, wie es sich in Begleitung einer Dame gehörte, etwas, wovon Bruder Gandon offenbar nichts wusste. Die meisten Straßen kannte sie nicht oder erkannte sie nicht wieder, sosehr schienen die Dinge in Gegenwart des Hauptmanns eine andere Sprache zu sprechen, voller Geflüster und Geheimnisse.
    »Du wolltest Abend, er bricht an, ist da«, seufzte sie.
    Nach langem Schweigen fügte sie hinzu:
    »Die schlafenden Häuser sehen aus wie träumende Gesichter.«
    Der Hauptmann räusperte sich.
    »Sie … Sie sind eine Dichterin.«
    Der schüchterne, fast ein wenig beleidigte Ton, in dem er das sagte, klang nach: »Sie machen sich über mich lustig, Sie nutzen Ihre Überlegenheit aus.« Er bemerkte nicht, wie sie rot wurde.
    »Eine Dichterin?«, sagte sie. »Ja, vielleicht.«
    Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Schließlich standen sie vor ihrer Tür, Auge in Auge. Clémentine ließ wie kopflos ihren Blick über sein volles Gesicht wandern, als wollte sie ihn unter Küssen begraben. Die Augen des Hauptmanns strahlten friedlich und sanft. Treue Hundeaugen.
    »Ich wollte Ihnen sagen, Herr Hauptmann … dass dieser Abend … für mich …«
    Auch sein Mund war schön, üppig und rot lag er unter seinem Schnäuzer. Sein lockiges Haar. Clémentine stiegen Tränen in die Augen. Sie biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf, sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie strich mit den Fingern durch seine Haare. Er beugte sich vor undküsste ihr die Hand. Sie versuchte schwach, ihn zurückzuhalten, doch vergebens, sie war wieder allein, plötzlich fröstelnd ihrem leichten Aufruhr überlassen.
    Sie sah hinauf zum Fenster ihres Schlafzimmers. Die Aussicht darauf, es zu betreten, erfüllte Clémentine mit Hilflosigkeit und Abscheu. Einen Moment überlegte sie, einen Spaziergang zu machen, bis es wieder hell wurde, ihm vielleicht sogar nachzugehen, warum eigentlich nicht? »Verlassen Sie mich nicht.« Aber der Hauptmann war wahrscheinlich schon weit fort. Clémentine senkte die Stirn. Langsam stieg sie die Treppe hinauf. Ihr rechter und linker Stiefel hatten unterschiedliche Farben.
    * * *
    Am nächsten Tag, dem Samstag, erwachte sie aus einem tiefen, traumlosen Schlaf von mehreren Stunden, wie sie ihn seit Wochen nicht mehr erlebt hatte. Sie bekam wieder etwas Appetit und verspeiste eine Scheibe Brot und einen halben Teller Grütze. Sie machte sich Tee. Dann stellte sie erstaunt fest, dass es schon nach zwölf war. Tja, dann heute eben kein Besuch bei Mama! Sie beschloss, im Haus einen Großputz zu machen.
    Als alle Aufgaben erledigt waren, hätte man vom Boden essen können, die Pfannen blitzten, frische Vorhänge schmückten die Fenster. Clémentine, von den Haar- bis zu den Zehenspitzen von makelloser Sauberkeit, zog ihr schönstes Kleid an, setzte sich auf einen Stuhl am Klavier und wartete mit einer Anthologie von Sully Prudhomme in den Händen auf den Hauptmann. Sie hatten nichts verabredet. Aber sie hoffte. Seit gestern hatte sich, wie ihr schien, der Wind gedreht: Ihrkonnte nur noch Gutes widerfahren. Der Hauptmann kam nicht. Als es Zeit war, ins Bett zu gehen, plagten Clémentine Schuldgefühle, ohne dass sie wusste, weshalb.
    Sie schlief nicht mehr ganz so gut

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