Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
sie immer geflohen war, würde sie nicht mehr in den Spiegel sehen können, das wusste sie. Clémentine kämpfte mit den Tränen. Sie dachte: »Ich muss aussehen wie eine Irre, wie ich hier vor der Tür stehe«, und der Gedanke trieb sie voran. Sie lief weiter. Sie versuchte sich zu geben, als kenne sie sich aus, hatte aberkeine Ahnung, wie sie dabei wirkte. Aus dem Schaufenster eines Cafés drang grünes Licht. Clémentine atmete tief durch und ging hinein.
Sie sah aus wie ein Schornsteinfeger, der in ein Adelshaus platzt. Vor ihren Augen schwebte dichter Nebel. Sie setzte sich an den ersten freien Tisch, der an einer Säule stand. Sie bestellte einen Pfefferminzlikör, und die Bedienung, die jenseits von Clémentines wildesten Vorstellungen geschminkt war, sah sie an wie ein Omnibus. Clémentine blickte sich flüchtig um und sah, dass die anderen Gäste alle Bier tranken. Schließlich konnte man aber doch eine Flasche Pfefferminzlikör für sie auftreiben. Die Waitress stellte ihr ein winziges Glas hin, für das sie einen Preis verlangte, dass Mademoiselle Clément beinahe vom Stuhl fiel. Während sie zahlte, sagte sie sich, das sei wohl üblich in so schicken Lokalen, und wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als wüsste sie das nicht. Die Kellnerin gab ihr das Wechselgeld und blieb neben ihr stehen. Sie kratzte sich am Schenkel. Clémentine versuchte sich zu erklären, warum sie stehenblieb. Sie schaute flehentlich lächelnd zu ihr auf. Die Kellnerin versetzte:
»Bedienung ist im Preis nicht inbegriffen.«
»Ach so ja, stimmt, wo habe ich nur meinen Kopf!«, sagte Clémentine mit einem falschen Lachen.
Die Kellnerin schenkte ihr ein Lächeln von oben herab. Clémentine legte ihr ein paar Sous Trinkgeld auf die Hand, die der Waitress ziemlich lächerlich vorkamen. Sie entfernte sich und Clémentine hörte, wie sie zu jemandem sagte:
»Und sowas erdreistet sich auch noch, Pfefferminzlikör zu trinken.«
Die Lehrerin nippte an ihrem Glas. Sie traute sich nicht, sich umzuschauen, sicher zeigten alle mit dem Finger auf sieund machten sich über sie lustig. Wo war die stählerne Clémentine mit ihrem überlegenen Gleichmut geblieben …? »Du wolltest Abend, er ist da, Clémentine, hier ist er.« Eine innere Stimme, deren Tonfall sie allzu sehr an ihre Mutter erinnerte, betete die immer gleichen lähmenden Sätze herunter: »Schau dich an, wer du bist: eine hinkende, eitle alte Jungfer. Mach, dass du hier wegkommst! Lauf, versteck dich, wenigstens so viel Würde solltest du noch haben!« Aber ihr ganzes Wesen lehnte sich mit einem gewaltigen Herzensschrei dagegen auf, und schließlich fand sie die Kraft, den Kopf zu heben.
Der Hauptmann saß direkt vor ihr, ein Glas Bier in der Hand. Sein Lächeln besagte: »Ich bin Ihnen die ganze Zeit gefolgt.«
Sie verbrachten den Abend miteinander, redeten, tranken ein wenig, erfreuten sich an der Gegenwart des anderen, lachten sogar (ja, lachten!). So hatte sie ihn noch nie erlebt. Er war wie ausgetauscht, war ausgelassen, umgänglich, aufmerksam, humorvoll. Genau genommen sprach der Hauptmann nicht viel, machte nur ab und zu eine grobe Bemerkung, aber er konnte zuhören, er bestärkte sie in ihrem Gefühl, ein wichtiger Mensch zu sein. Gut die Hälfte von dem, was sie von sich erzählte, war zwar gelogen, aber es kam ihr nicht so vor, als würde sie ihn in irgendeiner Weise täuschen; sie beschönigte ein wenig, weil es ein schöner Abend war. Sie machte keine Zeugenaussage vor einem Richter, sondern vollführte ein Pas de deux. Die Anmut schob sich tanzend vor die Wahrheit.
Manchmal hielt sie inne, legte den Kopf schief und musterte ihn mit einem Blick, der sie wieder neu beflügelte. Seine schöne, männliche Nase, sein dichter Schnäuzer, sein mächtiger, etwas schwerfälliger Blick, der sie aber beruhigte wieeine Handvoll guter Mutterboden in der Hand, alles an ihm inspirierte Clémentine, die sich im Gegenzug überwältigend leicht fühlte. Sie entdeckte an sich ein Talent zur Karikatur. Sie ahmte die anderen Lehrerinnen nach, ihre Altjungfernticks, ihre schmalen, verkniffenen Münder, und genoss dabei das weibliche Vergnügen, in Gegenwart eines Mannes, dem sie gefiel, ein bisschen boshaft zu sein.
Der Hauptmann zahlte jedes Mal die Getränke und gab dreimal so viel Trinkgeld wie Clémentine. Nach dem vierten Glas jedoch verdüsterte sich Clémentines Laune, ohne dass sie es hatte kommen sehen – ein plötzlich aufkommender Wind. Beinahe hätte sie ihm
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