Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
ihr, sie fühle sich unpässlich und werde die ganze Woche zu Hause bleiben. Mit undurchschaubarer Miene zog Mademoiselle Robillard wieder ab. Clémentine schnitt hinter ihrem Rücken eine Grimasse.
Das Einzige, was sie wollte, war schlafen, doch es gelang ihr immer nur für wenige Minuten. Rund um die Uhr litt sie diesen kümmerlichen Schlaf, schleppte sich vom Bett zum Sofa, fiel in der Küche im Schaukelstuhl in ein trübes Dösen. Manchmal verschaffte sie sich in brutalem Verlangen, mit schrecklicher Verbissenheit Lust. Sie hechelte und keuchte, erstickte ein letztes Aufstöhnen im Kissen … Dann entspannten sich ihre Muskeln wieder und sie brach in Schluchzen aus.
Oder sie saß grübelnd im Wohnzimmer am Fenster. Ihr Blick verlor sich in den Trümmern des Grill aux Alouettes . In ihrem Kopf entwarf und verwarf sie unentwegt Briefe an Bruder Gandon, die abwechselnd reumütig, bittend, rachsüchtig, doch letzten Endes unnütz waren, denn sie hatte sie vergessen, noch bevor sie den Stift ansetzte. Dann und wann stürzte Clémentine sich im Aufruhr eines übersteigerten Restes von Stolz an ihren Arbeitstisch, bewaffnete sich mit einem Bleistift und zog einen Stapel weißer Blätter aus der Schublade: Sie würde endlich ihr Herz ausschütten, alles sagen, alles erzählen, Namen nennen! Aber nach drei Seiten sah sie, dass es weder Hand noch Fuß hatte, sie war übergeschnappt, der Stift fiel ihr aus den Händen und sie legte sich zurück aufs Sofa, von heftigen Zuckungen geschüttelt, als habe sie gerade einen Mord begangen.
Eines Nachts wurde sie vom Geräusch eines Teekessels auf dem offenen Feuer geweckt. Sie stürzte aus dem Bett, sah den Herd leer und begriff, dass der bullernde Kessel nur in ihrem Kopf war. Sie presste ihre Hände dagegen, um das Dröhnen zu dämpfen. Die fernsten, demütigendsten Erinnerungen, die dubiosesten Verschwörungen, die um sie herum im Schatten lauerten wie Wolfsaugen, ihre furchtbaren Zukunftsaussichten, all das ging ihr wieder und wieder durch den Kopf, ohnedass es ihr gelang, das Kreisen durch einen Gedanken zu unterbrechen oder zu beherrschen. Und in ihrem Bauch, in der Mulde ihrer Brust, spürte sie etwas Unheilvolles, ein zähflüssiges, verrenktes Etwas. Sie beruhigte sich unter größter Willensanstrengung, die sie bis in die Knochen spürte; dann sah sie sich bestürzt um: Sie saß im Morgenrock auf der Vortreppe des Nachbarhauses, mit bloßen Füßen, den Hintern im Schnee ...
Schließlich wurde es Freitag, und ihr Zustand änderte sich grundlegend, eine Art Frieden kam über sie.
Sie hatte so viel gelitten, dass es nun schien, als leide sie überhaupt nicht mehr, als würde es nichts mehr bedeuten zu leiden. Mit ruhigem Blick überflog sie ihr Leben wie eine vollendete Katastrophe, eingedämmt in Raum und Zeit. Sie verspürte keinerlei Mitleid mit sich, ihr eigener Schmerz berührte, bedrückte sie nicht mehr. Sie war leicht wie ein Loch.
Ihr Bett verströmte einen schädlichen Geruch von Fieber und Medizin, und von speichelfeuchter Haut, der von ihr selbst ausging und der sie als kleines Mädchen immer angewidert hatte. Sie schaute aus dem Fenster, ohne sich vom Bett zu erheben. Es musste etwa zwei Uhr nachmittags sein. Sie sah den gleichmäßigen, zaghaft weißen Schimmer der Wolken, und alles Weiße im Raum, die Blätter auf dem Tisch, die Bluse über dem Stuhl, die Laken, reflektierte diese helle, gräuliche Blässe.
Und plötzlich begriff sie, dass sie nie wieder leiden würde.
Und sie sah, wie sie sich selbst gegenübersaß, als wäre sie ein anderer Mensch. Gleichzeitig sah sie sich am Fenster stehen. Sie hörte sich in der Einfältigkeit ihrer Küche im Kreis laufen. Sie sah sich jammernd an ihrem Arbeitstisch schreiben. Von ihrem Bett aus sah Clémentine all diese Gesichter ihrerselbst, die ein letztes Mal aufschienen, bevor sie eines nach dem anderen für immer ins Nichts verschwanden. Schonungslos vollzog sie an sich eine Art Abschaffung dieser Clémentines, wie ein Monarch, der den Thron wiedererlangt und der Reihe nach die Verordnungen des besiegten Usurpators wieder aufhebt. Die anderthalb Clémentines waren tot. Sie dachte an einen Vers, den sie in der Zeitschrift Der Rubikon der einsamen Seelen gelesen hatte: »Du wolltest Abend, er bricht an, ist da.« Das war es. Ihr Abend war dieser Freitagnachmittag. Die Große Erlösung. Von nun an gäbe es nichts mehr, weshalb sie leiden würde. Sie fühlte sich hart, stark wie die Bösartigkeit, sich selbst
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