Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
gegenüber gleichgültig, befreit. Sie schaute wieder aus dem Fenster. In der Farbe der geschlossenen Wolkendecke erkannte sie die endgültige Farbe ihrer Seele.
Da beschloss sie hinauszugehen. Ihr neuer Panzer, ihre nagelneue und wie sie meinte unzerstörbare Rüstung, diese noch unbestimmte Kraft, die sie aus sich hervorquellen spürte, sollte nun auf die Probe gestellt werden, so wie einstmals die japanischen Krieger, wenn es sie drängte, eine neue Klinge einzuweihen, dem erstbesten Bauern den Kopf abhieben. Diese jubilierende Grausamkeit, diese souveräne Missachtung allen Skrupels kitzelten in Clémentine einen perversen Freudenschauder wach, und gegen acht Uhr verließ sie schließlich in Eroberungslaune das Haus, ein zynisches Lächeln auf den Lippen, das sie in einen ganz eigenen, ihrer Ansicht nach überlegenen Rang erhob.
Aber wohin? Das Ziel, das sie sich wählte, das sich ihr besser gesagt aufdrängte, bestätigte sie in dem Glauben, eine Clémentine von einem gänzlich anderen Kaliber geworden zu sein. Sie würde ins Stadtzentrum gehen. Zu den Nights , wohin die Amerikaner aus Chicago kamen, zu den großenWarenhäusern, wo die Damen luziferische Hüte trugen, Zigaretten rauchten, die so lang waren wie Möhren, Englisch sprachen und vom aufregenden Nachtleben in New York und Paris erzählten. Clémentine nahm die Straßenbahn an der Ecke Rue Sainte-Catherine und Rue Préfontaine.
An der nächsten Haltestelle stieg der Feuerwehrhauptmann ein. Ihre Blicke trafen sich. Sie wandte stolz den Kopf ab. Der Hauptmann setzte sich auf eine Bank im hinteren Teil des Wagens. Clémentine rückte ihren Haarknoten zurecht.
Sie stieg in der Rue Papineau aus und ging nach Westen. Sie spürte ihn hinter sich, spürte seinen Blick auf ihrem Rücken: Eine seltsame Wärme durchfuhr sie von der Hüfte bis zum Hals. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Aber sie hatte keine Angst. Wie hätte ihr der Hauptmann, der sich am Abend von Guillubarts Tod so jämmerlich benommen, der gestammelt und gejammert hatte, auch imponieren sollen, wie hätte er der Frau, die sie geworden war, imponieren sollen? Nein, er machte ihr keine Angst. Sie beschleunigte den Schritt und erreichte erleichtert die breiten, hell erleuchteten Straßen.
Leuchtreklamen, Menschenmassen, festliches Treiben: Clémentine war geblendet. Sie war noch nie am Abend hier gewesen. Rasche Einkäufe alle zwei Jahre am Samstagnachmittag, um ihre Garderobe zu erneuern, dann war sie ebenso schnell wieder verschwunden.
Aber heute war sie da. Eine köstliche Aufregung ergriff sie. Hier zog sie alles von sich fort, lockte sie, sich selbst zu vergessen, sich einem großen, anonymen, wilden Glücksstrom hinzugeben. Es genügte, da zu sein und alles aufzunehmen. Wie einfach das war. Wie diese Menschen zu werden, eine von ihnen zu sein. Sie bedauerte nur, dass sie so schlecht gekleidet war: Sie hatte ohne darüber nachzudenken ihren abgewetztesten,speckigsten Mantel angezogen, an dem schon Knöpfe fehlten: Sie war gekleidet wie die letzte Landpomeranze. Auch bedauerte sie, dass sie selbst nicht gerade von untadeliger Reinheit war – und wieder verfiel sie mit unerwarteter Heftigkeit und Schärfe ihrer ständigen Angst, nicht gut zu riechen. Clémentine begann zu taumeln. Sie streifte die Hauswände. Sie versuchte, ihren eigenen Geruch zu erhaschen. Sie begutachtete ihre Fingernägel, die schwarz waren vor Dreck. Sie vergrub die Hände in den Taschen. Schwindel überfiel sie. Seit wann hatte sie nichts mehr gegessen? Sie suchte nach einer Bank. Die Menge trug sie in ihrem Strom mit sich fort. Zögernd blieb sie vor der Tür eines Nachtclubs stehen: Alles sah so prachtvoll darin aus, es gab Marmorstatuen, funkelnde Glastische … Schließlich wich sie zurück, meinte, jemand habe sich über ihren Aufzug lustig gemacht, ein schöner Mann obendrein.
Clémentine ging in ein Warenhaus. Sie lief die Gänge entlang, ohne etwas wahrzunehmen, schaffte es, die eine oder andere Viertelstunde totzuschlagen, und landete schließlich in der Abteilung für Damenunterwäsche, wo sie wie ein Dorftrottel errötete. Sie stürzte nach draußen. Unter dem Vordach eines anderen Geschäftes blieb sie stehen und schaute keuchend und wie betäubt in die vorbeirauschende Menge. Sie hatte das Gefühl, dass ihr ganzes Wesen in Stücke zerfiel und davontrieb. Sie musste irgendwo hineingehen, ganz gleich wo, sich setzen und versuchen, wie alle anderen zu sein. Wenn sie heimgehen, wieder fliehen würde, wie
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