Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
sich die Hände. Um ihre innere Unruhe zu überlisten, beschloss sie, einen Spaziergang zu machen.
Sie hatte sich ein elegantes Kleid angezogen, ihre Stiefel für besondere Anlässe und ihren schönsten Mantel. Sie lief lange durch die Straßen, die in immer neue Straßen führten. Schließlich kam sie zu einem Café. Es war kalt, sie wollte gern etwas Warmes trinken. Auf einer Bank sitzend sah sie sich herablassend um: Sie war Stammgast in den Nightclubs der Stadt. Um sie herum wurde geflüstert. Sie hörte deutlich, wie jemand sagte: »Das ist sie, das ist die Lehrerin …« Clémentine ließ den Kopf hoch erhoben. Sie ging. Sie stand über alledem.
Während sie lief, flatterte ihr der Schal um den Hals: Sie fand, dass sie ganz reizend damit aussah. Es hätte ihr gefallen, wenn der Hauptmann sie so gesehen hätte. Im Übrigen benahm sie sich, als beobachtete er sie heimlich. Sie setzte verschiedene Gesichter auf, nahm Posen ein, während sie an der Ampel wartete. In Wirklichkeit war sie von Angst erfüllt, eine harte Kugel in ihrem Bauch, gegen die sie nichts unternehmen konnte. Sie bog in die Rue Moreau ein und war überrascht, so viele Menschen zu sehen. Sie wandte sich an einen Polizisten, auch ein schöner Mann. Er teilte ihr mit, dass der Bankangestellte und sein Vater gestorben seien. Erschüttert machte Clémentine kehrt und ging nach Hause.
Der Hauptmann kam um sieben Uhr. Er musste dreimal an ihr Fenster klopfen. Clémentine schaffte es nicht, sich zu erheben. Sie betrachtete krampfhaft fasziniert einen Ölfleck auf den Dielen. Nachdem sie mehrmals tief eingeatmet hatte, rannte sie zur Tür, aus Angst, er hätte vielleicht schon den Rückzug angetreten. Er war da. Mit einem Strauß Nelken und einer Flasche Wein in der Hand. Und mit gewichstem Schnäuzer.
Zu seinen Ehren hatte sie das Wohnzimmer hergerichtet, er aber lief spontan in die Küche. Die Atmosphäre war anfangs die einer Totenwache. »Er findet mich bestimmt langweilig«, dachte Clémentine und musste die Tränen zurückhalten. Die Sekunden dehnten sich und fielen tropfenweise zu Boden. Traurig stellte sie fest, dass er seine Lebhaftigkeit vom Freitag verloren hatte: Wieder wirkte er wie ein kleiner, von seinem Lehrer eingeschüchterter Junge. Und dennoch lag etwas unbestimmt Hartes in seinem Blick. Clémentine senkte die Stirn und rieb sich die Finger.
Sie dachte an die pfeifenden Kobolde, und der Gedanke löste Qualen in ihr aus. Als sie klein war, hatte ihre Mutter diesen Ausdruck immer benutzt, wenn sie in den Zug stiegen: »Hast du auch nicht vergessen, die Kobolde pfeifen zu lassen?« Clémentine musste dringend auf die Toilette, die sich in der Küche befand, direkt hinter dem Stuhl, auf dem er saß. Das würde sie ihm nicht gerade auf die Nase binden! Mit nervöser Stimme schlug sie ihm vor, ins Wohnzimmer hinüberzuwechseln. Der Hauptmann stand mit etwas müder Folgsamkeit auf. Sobald er auf dem Sofa Platz genommen hatte, lief sie in die Küche und stürzte auf die Toilette.
Als sie erleichtert wiederkam, hatte er ihr Wein eingeschenkt, den sie in einem Zug austrank. Sie fand, dass er bitter schmeckte.
»Der Bodensatz da unten im Glas«, scherzte sie, »Sie wollen mich doch wohl nicht unter Drogen setzen?«
»Das ist die Weinhefe«, sagte er.
Sie schenkte erst sich, dann ihm nach, wobei sich ihre Finger streiften. Sie zog so ruckartig die Hand zurück, dass er aufschreckte.
»Soll ich Ihnen eins meiner Gedichte vorlesen?«, fragte sie mit einem Übereifer, der durch nichts gerechtfertigt war – so als riefe sie »Feuer! Feuer!«
Der Hauptmann sah sie verdutzt an. Clémentine errötete und ging ihr Gedicht holen.
Sie las es ihm mit unsicherer Stimme vor und hatte vom ersten Vers an das Gefühl, Berge von Obszönitäten von sich zu geben. Dennoch hielt sie mutig bis zur letzten Zeile durch, woraufhin sie den Hauptmann flehentlich ansah. Der wusste sichtlich nichts zu sagen.
»Es gefällt Ihnen nicht.«
Er hob vage die Hand, wie um zu widersprechen.
»Es … Ich müsste es nochmal lesen, in aller Ruhe. Später natürlich. Es … Es ist ein bisschen komplizierter als Perrette und der Milchtopf .«
Der Vergleich amüsierte Clémentine sehr. Der Hauptmann war überrascht. Aber das Lachen der Lehrerin besserte die Stimmung spürbar, und er fiel mit ein.
Da begann sie wie ein Wasserfall zu reden. Von ihrer Reise nach Paris, wo sie schon in Kontakt mit Dichtern und Malern sei, in Briefkontakt, versteht sich; von dem Vorhaben,
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