Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
wie in der Nacht zuvor und stand am Morgen ratlos auf. Sie trank eine Tasse Tee und sah aus dem Fenster. Der Morgen war trüb. Nebelschwaden verwischten die Dächer: wie auf einer unvollendeten Zeichnung, die aus Langeweile aufgegeben wurde. In regelmäßigen Abständen kamen ihr Bilder von Bruder Gandon in den Sinn, die sie alsbald wieder verjagte. Auf ihrem Nachttisch erblickte sie, an das Portrait des Exilanten von Guernsey gelehnt, die neueste Ausgabe des Rubikons der einsamen Seelen , in die sie noch nicht hineingeschaut hatte. Sie las hier und da zerstreut einzelne Absätze: Das alles schien ihr plötzlich zu dumm. Und doch blieb ihr Blick an den Worten »freie Verse« hängen. Clémentine begann aufmerksamer zu lesen. Es kam ihr vor, als würde sie geohrfeigt.
Vergangenheiten, vor der Kraft der Verzweiflung
errichtet ihr Mauern aus Watte, aus Nebel, und andre Niederlagen;
Erinnerungen, ihr sagt noch einmal die Kälte der Nacht, die
Abende der Siege,
nutzloser, nichtiger Siege;
Erinnerungen, ihr löst mit müdem Finger die Halsketten
der Feste .
Clémentine war, als schwebte sie über dem Boden. Sie las die Verse im Fieber ein zweites Mal. Daneben wirkte Victor Hugo plötzlich wie ein brüllender Gorilla! Sie legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa, am ganzen Leibe zitternd. Ja, so musste manschreiben, so musste man die Dinge benennen. Mit glühenden Wangen richtete sie sich auf. Sie schrieb in einem Zug:
Wenn ich heimkehre von diesen Wegen, wie ein Kind
endlich Glücklich,
Dann säen wir in meinem Garten
Die Spuren unsrer Augen, mein Geliebter, und die Niederlagen,
die geheimnisvollen,
Unsrer Hände .
Sie las noch einmal, was sie geschrieben hatte, und wagte es kaum zu glauben. Sie schrieb weiter. Die Worte schossen ihr nur so aus der Feder, machtvoll, ihr eingegeben, ohne zu versiegen, zwei Seiten lang. Am Ende setzte sie ihren Namen darunter. Strich ihn wieder durch. Schrieb stattdessen: Clémanthine de Kléman. Ein Moment der Verzückung überkam sie.
Sie schlief den ganzen Nachmittag und träumte von Faunen, von englischen Gärten: Junge Männer in antiken Roben tanzten um eine Brunnenschale. Dann ließ ein Gedanke sie im Schlaf zusammenzucken. Sie schlug die Augen auf: Was, wenn sie nach Paris ginge? Sie würde schreiben, berühmt werden. Dort würde sie verstanden. Sie stellte sich vor, wie begeisterte junge Dichter mit langen Haaren und blonden Bärten sie mit offenen Armen empfingen. In einem verrauchten Café in Montmartre der Prinz der Poeten, mit selbstgefälliger, misslauniger Miene, gleichgültig für die Gespräche um ihn herum; er sieht sie, fragt einen jungen Maler, wer sie ist, steht flugs auf, legt sich die Baskenmütze an sein Herz und ruft vor der verdutzten Bohème: »Ich grüße dich, meine kanadische Schwester!« Clémentine legte vergnügt und aufgebrachtzugleich den Kopf in den Nacken: »Ah, wenn Gaston Gandon das sehen könnte …!«
Dann, in der Abenddämmerung nach dem Kirchgang, brach Clémentine wieder zusammen, erdrückt von der Last der Einsamkeit.
Es war zu spät, um fortzugehen, so etwas machte man mit Anfang zwanzig. Das Blatt, auf das sie ihr Gedicht geschrieben hatte, lag auf dem Klavier. Es war ganz gewellt von Clémentines Fingern. Sollte sie es in einer Geste der Erhabenheit verbrennen …? Sie las ihre Verse noch einmal und hielt in der zweiten Strophe von sich selbst angewidert inne. Eine Hitzewallung überkam sie bei dem Gedanken, dass jemand das in Paris hätte lesen können. Sie wäre ausgelacht worden. »In Kanada pflanzen sie sich Hände in den Garten!« Mademoiselle Clément schenkte sich ein großzügiges Glas Portwein ein.
Um Viertel vor neun klopfte der Feuerwehrhauptmann ans Küchenfenster. Er konnte nicht bleiben. Aber er versprach, am nächsten Tag wiederzukommen, da habe er den ganzen Abend frei. »Zu mir?«, fragte sie fröstelnd. Er antwortete ihr mit einem Blick. Gegen Mitternacht las Clémentine ihr Gedicht nach über fünf Stunden noch einmal. Diesmal betrachtete sie es mit größerer Nachsicht. Ihr schien, ein neuer, geheimer, verheißungsvoller Sinn leuchte darin auf. Sie verstaute es behutsam in der Schublade ihres Sekretärs.
Die Unbefleckte Empfängnis fiel auf einen Dienstag, aber als arbeitsfreier Tag war der Montag bestimmt worden. »Bald ist es soweit, bald ist es soweit«, sagte sich Clémentine immer wieder mit einer Mischung aus Hoffnung und Panik. Sie ging so oft wie sonst nie aufs stille Örtchen. Alle naselang wuschsie
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