Die Unbefleckte Empfängnis (German Edition)
betasten kann.«
Remouald protestierte, aber Séraphon ächzte gebieterisch. Mit spitzen Fingern fischte er den Aschenbecher aus demDreck und legte ihn auf die Decke, in die die Beine seines Vaters eingewickelt waren. Während dieser sein Fundstück untersuchte, ließ Remouald den Blick über die Trümmer schweifen. Da eine von der Hitze verformte Flasche. Dort ein halb verbrannter Mantel, und noch ein Stück weiter, nein, er täuschte sich nicht, dort lag tatsächlich ein künstliches Gebiss. Remouald wurde übel. Er wandte den Blick ab.
Ein Stück Treppe ließ ihn innehalten. Daran hing noch ein leicht gewölbter Mauerrest in labilem Gleichgewicht. Man konnte einen Lichthof sehen, so als würde auf der anderen Seite ein Reisigfeuer brennen. Auf diesen Stufen hatte er oft gesessen, während er auf eine freie Toilette wartete. Er erinnerte sich an die Schaben, die in Schwärmen um die Pissoirs tanzten und, wenn er näherkam, davonauseinanderstoben wie eine Diebesbande, die beim Aushecken ihres nächsten Coups ertappt wird. Jedes Mal dachte er, dass auch Schaben eine eigene, einzigartige und in sich stimmige Sicht der Welt hatten. Und es schauderte ihn bei der Vorstellung, dass diese monströse Wirklichkeit auf ihre Weise sicher ebenso viel wert war wie die Wirklichkeit, die er wahrnahm. Seine Wirklichkeit war nicht wahrer und auch gewiss nicht komplexer als die der Schaben. Manchmal musste er sich zurückhalten, um nicht vor Grauen loszuschreien. Sie waren sicher umgekommen wie alle anderen, wie die Frauen, die Männer, die Mäuse, die Ratten. Remouald versuchte, den Gedanken zu vertreiben. Da sah er etwas Furchtbares.
»Schmeiß ihn weg.«
Hinter der Mauer waren schemenhaft Gestalten zu erkennen.
»Schmeiß ihn weg!«
»Hm? Was?«
»Schmeiß den Aschenbecher weg!«, wiederholte Séraphon.
»Wir rauchen ja auch gar nicht, du nicht und ich auch nicht. Los, schnell!«
Remouald ließ den Aschenbecher zu Boden fallen. Séraphon wies ihn an, ihn wieder aufzuheben und weiter weg zu werfen. Leicht gereizt schleuderte Remouald ihn über die Straße. Er ging zurück zum Rollstuhl, schob ihn ein Stück und blieb hinter einem Schutthaufen stehen. Von dort aus konnte er sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Da begriff er, was die Gestalten hinter der Mauer trieben.
»Was denn? Was ist denn da?«
Remouald schwieg verdutzt. Seine Hände hatten sich vom Stuhl gelöst und baumelten neben seinem Körper.
»Was ist denn da los?«
Séraphon versuchte, den Oberkörper zu drehen. Aber der Kopf fiel ihm schwer auf die Schultern. Er konzentrierte sich, sammelte seinen Geist. Er hörte, wie Remoualds Schritte sich entfernten, dann, ein wenig später und wie von sehr weit her, etwas, das wie Kindergelächter klang. Séraphon bekam es mit der Angst.
»Mir ist kalt! Hörst du, mir ist kalt! Komm her!«
Eine bange Minute blieb alles still. Dann flüchtende Schritte, Schreie und wieder Kinderstimmen. Mit ungekannter Härte legten sich Hände auf die Griffe seines Rollstuhls. Eine fremde Stimme flüsterte ihm ins Ohr:
»Wir müssen sofort weg!«
Séraphon fand das alles nicht mehr lustig.
»Stopp! Halt an! Zeig dich mir. Ich will dich sehen, Remouald, das ist ein Befehl! Sonst glaube ich nicht, dass du es bist …!«
Er schrie um Hilfe. Der Rollstuhl schoss über den holprigen Boden in Richtung Ausgang. Sie erreichten den Bürgersteig,ein Fenster öffnete sich und es erschien das Gesicht einer Frau, die laut aufschrie. Der Stuhl rollte noch schneller. Séraphon war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Zu seiner Rechten rauschten die Häuser an ihm vorbei. Er hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen.
An der nächsten Straßenecke tauchte ein Zweispänner auf. Remouald warf sich nach hinten und hielt den Stuhl abrupt an. Mit vollem Schwung flog Séraphon unter das Gefährt. Der alte Mann lag bäuchlings auf dem Boden, den Hals vorm Wagenrad. Zwei Zentimeter weiter und er wäre um einen Kopf kürzer gewesen.
Séraphons grelle Schreie schreckten die Pferde, und der Feuerwehrmann hatte alle Mühe, sie in Schach zu halten. Er begann auf Remouald einzuschimpfen. Der bugsierte verwirrt und außer Atem Séraphon so gut es ging in den Stuhl zurück und versuchte ihn festzuhalten. Der Alte war in heller Aufregung und weigerte sich anzuerkennen, dass dieser Mensch sein Sohn war, flehentlich bat er den Feuerwehrmann, ihn aus den Fängen dieses Schwindlers zu befreien …!
Remouald rüttelte ihn heftig und hob sein Kinn hoch, so
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