Die Unbekannten: Roman (German Edition)
und parkte dahinter.
Wenn sie zum Abendessen kam, aßen sie immer an dem Tisch in der Küche, und daher klopfte sie für gewöhnlich nicht an die Haustür, sondern gleich an die Hintertür.
Sie und Grady waren Freunde, sonst nichts. Kein Mann – und auch keine Frau – in ihrem Leben war mehr als das, doch sie betrachtete Grady als einen ganz besonders guten Freund.
Er besaß den Anstand zu wissen, wonach er fragen durfte und welche Fragen ungestellt zu bleiben hatten. Er verstand, dass es nicht nötig war, jegliche Neugier zu befriedigen, bloß, weil man jemanden mochte.
Vielleicht kamen sie gerade deshalb so gut miteinander
aus, weil auch sie die Grenzen therapeutischer Gespräche in einer Gesellschaft kannte, in der nichts höher geschätzt wurde als der therapeutische Wert. Sie rechnete nicht damit, einen Freund zu heilen oder von ihm geheilt zu werden.
Sich jemandem mitzuteilen musste nicht unbedingt darauf hinauslaufen, dass man sich dieser Person vollständig offenbarte. Je mehr man anderen über seine Vergangenheit erzählte, desto weniger sahen sie in einem den Menschen, der man gegenwärtig war, und desto mehr denjenigen, der man gewesen war und nicht mehr sein wollte; dabei hatte man genau dafür lange und hart gekämpft.
Weder Worte noch die Zeit heilten irgendjemand. Falls irgendetwas Heilung bringen konnte, dann nur das Leben selbst, wenn man so lebte, wie es einem bestimmt war und so gut man das eben konnte, mit seinen erlernten Gewohnheiten und wirren Absichten. Wenn man die Zeit durchlebte und schließlich über sie hinaus lebte, wenn weder Therapeuten noch Chirurgen gebraucht wurden, um den Schmerz zu lindern oder ihn herauszuschneiden.
Cammy trug ihre Arzttasche zum Haus. Als sie die Stufen zur hinteren Veranda hinaufstieg, öffnete Grady die Küchentür.
Wie immer gefiel ihr, wie er aussah: groß, ein bisschen verwegen, Kinn und Mundpartie drückten Entschlossenheit aus, doch gleichzeitig war da die Freundlichkeit in seinen Augen, die sich so deutlich zeigte wie das Blau seiner Iris.
Man könnte einwenden, Güte sei in den Augen eines
gütigen Menschen ebenso wenig zu sehen wie die Verdorbenheit in den Augen eines schlechten. Aber sie konnte beides sehen, wenn es vorhanden war: die Schlechtigkeit, weil sie so viel Erfahrung damit hatte, und die Güte, weil sie so lange Zeit keine erfahren hatte, dass sie überempfindlich für deren Gegenwart war, seit sie sie endlich kennengelernt hatte.
Sie hatte von einem Mann namens Homer gelesen, der ein sechsjähriges Kind gewesen war, als eine geheimnisvolle neurologische Störung ihm für die nächsten dreißig Jahre den Geruchssinn geraubt hatte. Eines Tages, als er sechsunddreißig war und eine Rose pflückte, um sich an ihrem Anblick zu erfreuen und auszukosten, wie sich ihre Blütenblätter anfühlten, war sein Geruchssinn schlagartig zurückgekehrt und hatte ihn mit einer Wucht überwältigt, die ihn geschockt zu Boden stürzen ließ. In den Jahren danach kostete er jeden betörenden Duft einer Welt aus, die in dem Punkt viel zu bieten hatte. Für den Duft einer Rose blieb er jedoch so sensibilisiert, dass er einen blühenden Rosenstrauch zwei Straßen weit riechen konnte und schon bevor er die Tür eines Blumenladens öffnete, wusste, ob es dort reichlich Rosen gab oder ob die Bestände gerade ausgegangen waren.
Güte in den Augen eines Mannes war für Cammy so deutlich zu erkennen wie die Verheißung von Rosen für Homer, die aus großer Entfernung und durch geschlossene Türen zu ihm vordrang.
Diesmal sah sie, als Grady sie begrüßte, allerdings noch etwas anderes, das ihr an ihm weniger vertraut war: kindliche Ausgelassenheit und Staunen.
Er sagte: »Ich hätte dich besser darauf vorbereiten müssen.«
»Mich vorbereiten?«
»Am Telefon. Darauf.«
Während er sie in die Küche führte, sagte sie: »Ich habe meine Arzttasche mitgebracht.«
»So war das nicht gemeint. Ich meinte, du weißt schon, dich vorbereiten .« Er schloss die Tür. »Aber das könntest du ohnehin nicht sein. Vorbereitet, meine ich. Darauf.«
»Was redest du denn da?«
»Es klingt verrückt, aber es ist ja auch viel passiert. Ich weiß selbst nicht, was ich davon halten soll. Von ihnen. Vielleicht weißt du es. Sie sind im Wohnzimmer.«
Cammy folgte ihm durch die Küche. Auf der Schwelle zum Flur blieb er stehen. Fast wäre sie mit ihm zusammengeprallt.
Er drehte sich zu ihr um. »Ich habe beinah Angst davor, dich ins Wohnzimmer zu lassen.«
»Angst –
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