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Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Die Unbekannten: Roman (German Edition)

Titel: Die Unbekannten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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schimmernden geronnenen Masse, die anschwoll, sich bog, aufbäumte und Undenkbares hervorbrachte.
    Er ahnte auch, dass etwas mit der Zeit passiert war. Da stimmte etwas nicht, da hatte sich in irgendeiner Form etwas verändert – an ihrem Lauf, den Regeln oder gar dem Zweck. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren eins, zusammengedreht wie Spaghetti um eine Gabel, dann enger und immer enger zugezogen, bis zahllose Jahrtausende in einem einzigen Augenblick verschnürt waren. Er wurde sich jedes einzelnen Momentes seiner Vergangenheit und sämtlicher Möglichkeiten seiner Zukunft bewusst, sah sich als Fötus, als Kleinkind, als heranwachsenden Jungen, als Jugendlichen, als Erwachsenen, als altersschwachen Achtzigjährigen, alles gleichzeitig.
    So überaus seltsam und beängstigend das Ereignis auch war und obwohl es sämtliche Sinne überwältigte und sich in einer Form auf den Verstand niederschlug, die ihn fast bis an den Punkt einer mentalen Implosion brachte, wusste Liddon augenblicklich, was hier geschah, und er erkannte den Zweck und die Absicht dahinter. Er wusste auch, dass der grässliche Druck, der ihn zu zermalmen drohte, die atemberaubende Ehrfurcht, die aus der puren Gewalt des Geschehens erwuchs, sofort nachlassen
würde, wenn er sich bloß nicht widersetzte, doch er widersetzte sich.
    Subjektiv betrachtet schien sich der Vorfall über Stunden hinzuziehen. Aber als er den Mund zu einem lautlosen Schrei des Leugnens und der Selbstbehauptung öffnete, als seine Hände sich so fest zu Fäusten ballten, dass die Fingernägel sich in die Handflächen gruben und die Knöchel seiner Finger sich anfühlten, als könnten sie die Haut durchbohren, da wusste Liddon, dass tatsächlich nur wenige Sekunden vergingen, höchstens ein Sechstel von einer Minute.
    So abrupt, wie es begonnen hatte, endete es. Ebenso, wie er zu Beginn des Ereignisses versucht hatte zurückzutaumeln, wankte Liddon nach vorn, als es vorbei war, und diesmal hinderte ihn keine Macht daran. Weder der sich lichtende Nebel noch die dauerhaften Schatten boten hinlänglichen Sichtschutz, weder die Bäume noch die Farnsträucher, und der eine Pfad war der einzig mögliche Weg, nicht zurück zu Rudy Neems, sondern vorwärts. Liddon legte wankend und taumelnd die letzten hundert Meter des Fußwegs zu der Seitenstraße zurück, die in erster Linie von Waldarbeitern und vorwiegend bei Bränden benutzt wurde.
    In dem Mietwagen verriegelte er die Türen, warf den braunen Umschlag auf den Beifahrersitz und saß keuchend und bebend da.
    Er klappte die Sonnenblende herunter, um in den Spiegel auf ihrer Rückseite zu schauen. Er rechnete damit, dass sein Gesicht versengt oder auf irgendeine andere Weise von der Begegnung gezeichnet wäre, doch er trug
keine Male seines Erlebnisses. Als er im Spiegel in seine Augen sah, wandte er den Blick sofort ab.
    Erst als sein Herz etwas langsamer schlug und seine Furcht nachließ, merkte er, dass er einen Slipper und den Überschuh aus Gummi verloren hatte. Doch kein teures italienisches Schuhwerk konnte so kostbar sein, dass es ihn dazu gebracht hätte, in den Wald zurückzukehren.
    Seine graue Hose aus Wollstoff von Ermenegildo Zegna saß so unförmig, als sei sie in der chemischen Reinigung unsachgemäß behandelt worden. Die Hälfte der oberen Naht seines Mark-Cross-Gürtels war aufgegangen und der Dorn der Gürtelschnalle verbogen.
    Das Geoffrey-Beene-Hemd, das sich mit säuerlichem Schweiß vollgesogen hatte, war auf seltsame Weise geschrumpft; es schnitt ihm in die Achseln und war am Kragen zu eng.
    Mit dem übel zugerichteten Armani-Pullover musste er irgendwo hängen geblieben sein; Dutzende von losen Maschen, an denen Garnfäden baumelten, hingen heraus, und die schwarze Jacke von Andrew Marc stank, als hätte das Leder angefangen zu modern.
    Als er einen Blick auf seine Patek Philippe warf, schienen der Stunden- und der Minutenzeiger die richtige Zeit anzuzeigen, und der Sekundenzeiger glitt geschmeidig über das Zifferblatt. Aber als Wochentag zeigte die Uhr Donnerstag an, obwohl in Wirklichkeit Montag war, und die Monatsanzeige stand auf Dezember anstelle von September.
    Schließlich ließ Liddon den Mietwagen an und schaltete die Heizung ein, denn er fror bis ins Mark.
    Doch er war noch nicht fahrtüchtig.
    Er sah sich nicht nach dem Wald um. Dort gab es nichts, was ihn interessierte. Nichts dort würde ihn jemals interessieren. Er würde nicht in diesen Wald zurückkehren. Er würde überhaupt nie mehr

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