Die Unbekannten: Roman (German Edition)

weinte.
    Im Alter von elfeinhalb Jahren erfuhr sie, dass er eine Waffe besaß. Er bewahrte sie immer geladen in einer abgeschlossenen Stahlkassette auf, die in einem abgeschlossenen
Küchenschrank stand. Am Tag nach ihrem zwölften Geburtstag entdeckte sie, wo er die Schlüssel für den Schrank und für die Kassette aufbewahrte.
    Drei Jahre lang unternahm Cammy nichts. Später schämte sie sich dafür, dass sie sich nicht befreit hatte, obwohl die Mittel für eine Befreiung zur Hand gewesen waren. Sie konnte keine vernünftige Erklärung dafür finden und auch nicht intuitiv zu einer Antwort gelangen, die sie zufriedenstellte und von ihrer Schuld freisprach.
    Nach sieben Jahren Sklaverei, nachdem sie so lange missbraucht und gedemütigt und terrorisiert worden war, hatte sie keine andere Lebensform mehr gekannt. Sämtliche Erinnerungen an ihren Vater waren mit der Zeit und durch die Gezeiten des Chaos’, in denen die Therapy kreuzte, fortgeschwemmt worden.
    Ausweglosigkeit war ein zu intensives Gefühl, um von Dauer zu sein. Irgendwie hatte sie zugelassen, dass ihre Ausweglosigkeit zu Verzagtheit und nicht zu akuter Verzweiflung mutiert war. Akute Verzweiflung war belebende Ausweglosigkeit, die mit Tatkraft erfüllte; sie hätte wesentlich eher zu Verzweiflungstaten geführt, ungeachtet der Konsequenzen. Verzagtheit war die trostlose Unfähigkeit zu hoffen, und Hoffnungslosigkeit nährt Apathie.
    Der Kuchen, den er für Cammys fünfzehnten Geburtstag buk, war jedoch einer zu viel. Obwohl sie nicht erklären konnte, warum ihre Verzagtheit abrupt in akute Verzweiflung umschlug, holte sie die Schlüssel, öffnete den Schrank, öffnete die Stahlkassette, ging an Deck und erschoss Jake Horner, der am Steven an der Reling stand
und Delfine beobachtete, die sich im Kielwasser der Therapy tummelten.
    Da sie Jake im Lauf der Jahre immer wieder zugesehen hatte, hatte sie gelernt, wie man das Boot steuerte und navigierte. Sie brauchte drei Stunden, um einen Hafen anzulaufen.
    Während der Fahrt lag Zena auf Deck, hielt Horners Leiche an sich geschmiegt, sang ihm abwechselnd etwas vor und lachte. Sie war nicht fähig zu weinen, weil sie auf Ecstasy und so high war, dass weder Kummer noch Furcht an sie herankamen.
    Das Jahrzehnt, in dem sie von einer Gelegenheit zur nächsten gereist waren, von einem Hafen zum anderen, von einer Freveltat zur nächsten, hatte Cammy derart verwirrt, dass sie damit rechnete, wegen Mordes verhaftet und ins Gefängnis gesperrt zu werden. Stattdessen lebte sie drei Jahre lang bei Janice, der Schwester ihres Vaters, die drei Hunde, zwei Katzen und ein Pferd besaß. Anschließend besuchte sie die Universität.
    Zena kam schließlich ins Gefängnis. All die Jahre, in denen sie Ecstasy genommen hatte, hatten dauerhaft die Fähigkeit ihres Körpers vermindert, Endorphine zu produzieren, diese Peptide, die Glücksgefühle auslösen und in Zeiten von Verletzungen und Krankheiten die Schmerzschwelle heraufsetzen. Nach zehn Jahren ununterbrochener chemischer Seligkeit konnte sie tatsächlich ohne Hilfsmittel überhaupt kein Glück mehr fühlen. Und sie reagierte überempfindlich auf die geringste Verletzung, sodass sich ein kleiner Kratzer für sie wie eine Säbelwunde anfühlte und jeder Kopfschmerz zu einer
rasenden Migräne wurde. Sie saß vier Jahre ihrer Strafe ab, bevor sie eine Möglichkeit fand, sich in ihrer Zelle zu erhängen.

    Die Hände auf dem Steuer konnten gut lenken, die Narben beeinträchtigten die Funktion der Hände nicht. Die Dinge, die sie mit diesen Händen getan hatte, um Unschuldige zu heilen, hatten Cammy von der Schande ihrer unterwürfigen Ergebenheit reingewaschen, mit der sie sich in Einschüchterung und Entstellung gefügt hatte.
    Als sie sich Gradys Haus näherte, fühlte sich Cammy in der Falle wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Sie befürchtete, ihr bliebe unter Umständen keine andere Wahl als die, etwas noch Schrecklicheres zu tun als alles, was sie jemals getan hatte oder sich jemals hatte antun lassen, während sie an Bord von Jake Horners Therapy gewesen war.
    Wenn sie mit Paul Jardine kooperierte und ihm Puzzle und Riddle auslieferte, würde sie ihnen die Freiheit genommen und sie in Gefangenschaft gebracht haben, sie zwangsläufig Leiden und möglicherweise sogar Qualen ausgesetzt haben, von denen sie nichts wissen konnte. Sie würde damit die Unschuldigen verraten, denen zu dienen sie gelobt hatte.
    Andererseits waren die Gesetze, die sie zwangen, in einer solchen