Die Unbekannten: Roman (German Edition)
angeworben, die dem Heimatschutz in Krisensituationen auf Abruf zur Verfügung standen.
Als einer von vielen auf der Liste, die seine Kenntnisse besaßen, waren Lamars Dienste in sieben Jahren nur sechsmal in Anspruch genommen worden, und er stellte
sich vor, dass in diesem Zeitraum wohl an die hundert Kriseneinsätze erfolgt waren. Er bezweifelte, dass Simon Northcott allzu oft herangezogen wurde, denn nur bei den wenigsten terroristischen Aktionen waren biologische Waffen im Spiel, wohingegen ein Spezialist für Wahrscheinlichkeitsanalyse und Chaos ungeachtet der Art der Bedrohung ein wertvolles Teammitglied war.
»Ein Vorfall von oberster Priorität«, sagte Northcott in sarkastischem Ton, »und doch geht es nicht um eine Bedrohung, sondern um eine Frage. Eine Frage von oberster Priorität – also, wenn das kein Oxymoron ist!«
Lamar lehnte seine Stirn an das Fenster auf seiner Seite und schaute auf den Schatten des Hubschraubers hinunter, der über die Landschaft unter ihnen raste.
Grady Adams aus Colorado. Marcus hatte keinen engeren Freund gehabt als Grady Adams, der auch bei ihm gewesen war, als er starb.
C.G. Jung, der Psychologe und Philosoph, war der Überzeugung gewesen, der Zufall – und insbesondere die extremste Form des Zufalls, die er Synchronizität nannte – sei ein Organisationsprinzip des Universums und so real wie die Gesetze der Thermodynamik oder der Schwerkraft. In Fragen der Kultur oder der menschlichen Sonderstellung hatte Lamar Woolsey wenig mit Jung gemein, aber mit Sicherheit gab es für den Mann einen Platz in der Chaostheorie, wo sich selbst in anscheinend besonders ungeordneten und formlosen Systemen wie dem wüsten Toben von Sturmwogen und dem Wüten von Tornadowinden eine verborgene Ordnung finden ließ.
Grady Adams. Lamar sagte sich, dass er zu diesem Zeitpunkt ausgerechnet diese Karte gezogen hatte, sei so, als würde ihm aus einem Schlitten mit tausend Kartenpaketen die bedeutsamste Karte zugeteilt.
45
Auf der Fahrt zu Gradys Haus schweifte Cammys Aufmerksamkeit wiederholt von der Schnellstraße ab und richtete sich auf ihre Hände am Steuer.
Da sie sich so lange geweigert hatte, die Opferrolle anzunehmen, und da sie den größten Teil ihres Lebens mit den Narben verbracht hatte, dachte sie an diese Entstellung kaum öfter als daran, dass jede ihrer Hände fünf Finger und vierzehn Knöchel hatte. Die Narben gehörten für sie so selbstverständlich zu ihren Händen, dass sie ihr nicht peinlicher waren als die Tatsache, dass sie Fingernägel hatte. Eine Überlebenskünstlerin konnte der Beweis für ihre Entschlossenheit und ihr Durchhaltevermögen nicht in Verlegenheit bringen.
Jetzt warf sie immer wieder Blicke auf die Narben, weil sie zum ersten Mal seit ihrem fünfzehnten Geburtstag das Gefühl hatte, in der Falle zu sitzen – zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren.
Die Falle, aus der sie an jenem lange zurückliegenden Geburtstag entkommen war, hatte sie schon ertragen, seit sie fünf Jahre alt gewesen war. Begonnen hatte es, als ihre Mutter und Jake Horner, der Freund ihrer Mutter, Cammy über Staatsgrenzen gebracht hatten, um zu vermeiden,
dass sie sich an den Gerichtsbeschluss zum Sorgerecht halten mussten, der bei der Scheidung in Texas erlassen worden war.
Das Gericht hatte beiden Eltern das gemeinsame, gleichberechtigte Sorgerecht zugesprochen. Zena, Cammys Mutter, konnte es allerdings nicht leiden, wenn ihr jemand vorschrieb, was sie zu tun hatte.
Jake Horner hatte Geld geerbt. Für einen Teil davon kaufte er ein Boot, einen Küstenkreuzer von knapp siebzehn Metern Länge, den er Therapy nannte.
Jake, Zena und Cammy kreuzten unablässig von Vancouver nach Süden bis Puerto Vallarta in Mexiko und wieder zurück. Sie lagen nie länger als zwei Wochen in einem der Häfen.
Mike Rivers, Cammys Dad, machte sie acht Monate später in einem Jachthafen im Norden Kaliforniens ausfindig. Da Unterschiede in der Gesetzgebung von Kalifornien und Texas sein Vorhaben erschwerten, nahm er die Dinge selbst in die Hand.
Als Mike Rivers auf dem Anlegesteg erschien, überredeten ihn Zena, die Reue und Furcht vor den Behörden bekundete, und Jake, der sagte, ihm sei weder klar gewesen, dass Mike das Sorgerecht für seine Tochter haben wollte, noch dass ihm dieses vom Gericht zugesprochen worden war, an Bord der Therapy zu kommen. Jake war wütend auf Zena und versicherte Mike, sie könnten die Angelegenheit schnell und zur allseitigen Zufriedenheit regeln.
Die
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