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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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Gehen hindert, am Aufstehen vom Bett, die seinen Kopf nach vorne drückt. Der Dreißigjährige schiebt den einen Fuß vor den anderen, bleibt stehen, seufzt. Er zeigt auf Hände, Füße, Ellenbogen, Rücken, Becken, Brust und verzieht das Gesicht. Dieses vor Schmerz verzerrte Gesicht zeigt er seit Monaten all den Ländern, die er durchquert hat.
    Mir ist gerade das Wort für »Gelenke« entfallen und so behelfe ich mir mit »Knochen«.
    »Ja«, nickt er eifrig, »es sind die Knochen, sie lassen mich nicht schlafen. Was ist los mit ihnen? Brechen sie auseinander? Werde ich nie eine Familie gründen? Werde ich im Rollstuhl enden? Im Flüchtlingsheim fragte man mich: Sind Sie invalide?«
    Das Wort erniedrigt ihn, er schluchzt. So wie ihm sein Körper entgleitet, so entgleiten auch die Gedanken. Er zeigt auf den Kopf, dreht ihn und lässt ihn absacken. Vier Tage lang war er in der psychiatrischen Klinik, man hielt ihn für verwirrt, doch dann entließ man ihn mit den Worten:
    »Ihr Problem ist nicht im Kopf.«
    Der Rheumatologe versteht sein Handwerk, er gibt den in alle Richtungen preschenden Ängsten eine Führung:
    »Das ist Ihre Psoriasis. Bei zehn Prozent der Psoriatiker tritt sie zusammen mit Polyarthritis auf. Die Röntgen bilder zeigen entzündete Gelenke. Es ist eine Autoimmunerkrankung, das Immunsystem greift den eigenen Körper an. Wir wissen nicht warum.«
    Also doch Krieg, Bürgerkrieg im Körperland.
    »Und was wird jetzt mit mir?«
    »Wir schwächen das Immunsystem mit einem Medikament. Ich garantiere, dass es Ihnen besser gehen wird, Sie werden schlafen können. Sie werden wieder auf Ihren Körper vertrauen können.«
    Endlich sagt ihm jemand, ein grauhaariger väterlicher Mann, dass es etwas gibt in der chaotischen Welt, worauf er vertrauen kann. Hat er sich nicht wegen der mysteriösen Krankheit auf die Reise gemacht, damit ein weiser Doktor das Leiden benennt und heilt?
    Der Arzt weiß um die Placebowirkung seiner Worte, er lügt nicht, er lässt bloß die Nebenwirkungen der Behandlung aus und spricht mit der Festigkeit, die es braucht. Das Medikament sei sehr teuer. Er nennt eine Summe, für die in der Heimat des Patienten ein Killer bereit wäre, Dutzende Menschen zu töten. So viel Geld nur zu seinem Wohl. Und der junge Mann muss auch niemanden bestechen. Das Leiden genügt. Hier hat das Leiden Menschenwürde.
    Zuerst hatte er nur Pünktchen auf dem Rücken, dann kamen die Kriegswirren in sein Land, und die Psoriasis besetzte seinen ganzen Körper, die Flechten wurden groß und wanderten von einer Stelle zur anderen wie mit Habseligkeiten beladene, herumirrende Flüchtlinge. Bald darauf drang die Psoriasis unter die Haut, explodierte in den Gelenken. Knie, Zehen, Finger schwollen an. Sein Leben kam durcheinander.
    »Ich habe meine Familie verloren, habe sie vergeblich überall gesucht.«
    Seine Geschichte von der Einsamkeit ist brüchig. Das ist die Version für das Asylverfahren. Der junge Mann ist kein Abenteurer, vielmehr ein gehätschelter Sohn einer großen Sippe, die ihn losschickte in die weite Welt, damit er genese, um Nachkommen zu zeugen. Das ist der Gral, den er finden muss. Aufrecht soll er zurückkehren, mit festen Knochen, nicht geknickt im Rollstuhl. Er muss seinen Körper kennenlernen, ihn einsammeln, bündeln, samt den Gedanken.
    Der weise Doktor gab ihm die Richtung. Heute fing die Rückkehr an.
    In diesem Land pflegte man fröhlich den Vorwurf, er war so geläufig wie bei uns das Kompliment. Ein Kompliment ist unpädagogisch, ein korrupter Schmeichler, es schafft eine süßliche, den Verstand vernebelnde Atmosphäre. Komplimente vergeudet man an unverdiente, unüberprüfbare, flüchtige Erscheinungen wie die Schönheit. Ich verteilte Komplimente links, rechts, lobte jemandes Grübchen, dort wieder das Kleid oder die Frisur und galt als aufsässig. Ein gut gezielter Vorwurf spornt zum Durchhalten an, ist ein Schnitzmesser für den Charakter. Da waren sie großzügig und bedienten sich derber Sprachspiele.
    »Dreck am Schuh, Dreck am Stecken.«
    »Sie haben ein Loch im Handschuh. Es zieht.«
    Und schon tat sich ein Löchlein zu einer Bekanntschaft auf. Der Vorwurf war der Königsweg zum anderen. Sie saßen hinter ihren Festungsmauern, und es wäre verdächtig, mit einem belanglosen netten Wort um Einlass zu bitten. Ein handfester Vorwurf dagegen schuf Vertrauen. Lange erkannte ich ihre Eroberungstaktik nicht und wähnte mich ungeliebt. Dabei stand ich umzingelt von Vorwürfen im

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