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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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unterbrochen zu werden, als ertrügen die vom Schicksal Gebeutelten keinen Widerspruch. Ich ließ mich verführen und verriet in langen Monologen meine unordentlichen Gedanken. Sie nickten melancholisch, von sich gaben sie nichts preis – dafür gab es die Diagnose »Enthemmung« – sondern ermutigten mich, über Diskriminierungen zu berichten, damit sie sich über ihre bösen Landsleute empören konnten. Diese wollten nämlich die Fremdenmenge halbieren und argumentierten mathematisch, die Hälfte der Fremden würde das Eigene nur zur Hälfte bedrohen. Das Land war gespalten. Jene, die es zu den Fremden zog, nahmen diese in Schutz und brauchten sie als Schutzschild im geistigen Bürgerkrieg. Sie kämpften mit heiligem Ernst, entsprechend dem Ernst der Lage. Sie wussten, wie schlimm es um das Land bestellt war. Sie fragten sorgenvoll:
    »Ernährst du dich auch richtig?«
    Ich war sorgenresistent, dabei war gerade die Sorge ein hoher Wert. Kaum der Kindheit entwachsen, zermarterten sie sich verantwortungsvoll den Kopf über die Rente. Vor der Sorge gab es die Vorsorge. Und kümmerte man sich zu wenig um die Sorge, landete man bei der Fürsorge, und sollte diese zu Ende sein, gab es genug Nachsorge. Durch die Sorge war das Land zur Reife gekommen und von der Sorge zum Wohlstand. Unermüdlich wurde die Sorge propagiert, in der es sich so behaglich lebte. Dabei war sie bloß ein vornehmes Wort für eine ganz gewöhnliche Angst. Der Blick durch die sorgenvolle Brille bewies den realitätsnahen Bürgersinn. Die elitäre Bekümmernis schaute von oben auf die dumme Unbekümmertheit herab.
    Mein tiefer Schlaf war verdächtig, wo doch die Schlaflosigkeit für eine verantwortungsvolle Nachtruhe sorgte. An Schlaf war nicht zu denken, der Alltag war aufreibend, er brachte vieles, was demokratisch zu beschließen war. Wer wird neuer Beauftragter für das Hinaustragen vom Abfall? Darf der Kellerschlüssel eine rote Schleife haben – ist das nicht zu politisch? Eine Sitzung wurde einberufen, die Traktandenliste angefertigt, das Problem von der Wiege bis zur Bahre vorgestellt und jeder aufgefordert, in voller Freiheit die eigene Meinung zu äußern. Sich zu allem eine Meinung zu bilden, war bürgerliche Pflicht. Die vorbildliche Gesprächsstruktur wurde an Schulen für Sozialarbeit gelehrt und breitete sich von dort epidemisch aus.
    Die Versammelten ertrugen tapfer die demokratische Last. Sie hörten einander zu und widersprachen auch, allerdings sachlich, nach allen Regeln des Anstandes. Es ging um das Kleine, das Machbare, das Nahe. Was nicht vorhersehbar und in allen Details vorentworfen werden konnte, war Rauch. Aus Rauch kann man nichts bauen, es sei denn Rauchschlösser. Ein Detail nach dem anderen, ein Termin nach dem anderen, im Schritttempo voran, und immer wieder die offene Frage: »Sind alle damit einverstanden?« Diktatorisch Geschädigte verrieten sich dadurch, dass es sie juckte durchzugreifen, eine Entscheidung zu fällen, die Bremsen abzumontieren, der Sache Schwung zu geben. Gähnte ich, zeigte ich bloß, dass ich kein besserer Mensch war, und die demokratisch Sozialisierten kehrten ihre sadistische Seite heraus: Sie wiederholten die ödesten Punkte so oft, bis der Kopf sich leerte und sich die Erleuchtung einstellte. Mich davonschleichen auf Nimmerwiedersehen? Schon wurde das Programm für den nächsten Termin vorgestellt. Die Langweile wurde heroisch gelebt, ohne zu murren, und als politische Höchstleistung gewürdigt. Man war überzeugt davon, dass die armen Geknechteten in den Diktaturen die Güte der Langweile nicht kannten.
    Endlich, nach dem mühsam errungenen Konsens, wurde eine neue Ordnung abgefasst, der Ideendunst eingegrenzt und die Verantwortlichen in freien Wahlen bestimmt. Die Geburt von neuen Vorschriften war nicht von Schreien begleitet. Auch bei der Ankunft von kleinen Bürgern schrien die einheimischen Gebärenden nicht wie die fremden. In einem Büro schreit man nicht, und das ganze Land war ein Amt. Die Kleinkinder erhielten von ihren Eltern Ämtli zugeteilt wie anderswo Bonbons.
    »Du sammelst die Krümel vom Tisch, du wischst den Schweiß ab, du knackst die Nuss.«
    Der Tag war voller Krümel und Kummer, der Schweiß tropfte auf die kleine Nuss.
    »Hast du dein Ämtli nicht erledigt, kriegst du kein Münz. Einmal lassen wir es dir durch, aber kein zweites Mal.«
    Die Kindheit war veramtet, geregelt wie der Verkehrsgarten. Am Sonntag brachte man die Knirpse zum Austoben vor die

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