Die undankbare Fremde
überbordeten wir anderswo, kurzlebig, hechelnd. Bald standen wir im Ruf, gemeingefährlich zu sein. Dabei waren wir bloß auf der falschen Bahn, Sprinterinnen, die sich in einen Marathonlauf verirrt hatten.
In der Beratungsstelle für Flüchtlinge wartet ein groß gewachsener Jugendlicher. Er sieht nicht traumatisiert aus. Auch nicht verschlagen. Eher halbwegs wohlbehütet. Einen Ausweis habe er nicht, nie gehabt, er wisse nicht einmal, was das sei.
»Ohne den Beweis deiner Identität bringst du die Behörden gegen dich auf«, sagt die Sozialarbeiterin. »Können dir die Eltern einen Ausweis besorgen?«
»Meine Eltern sind bei einem Hausbrand umgekommen, als ich noch klein war.«
»Wie hast du ohne Papiere die Schule besucht?«
»Ich habe keine Schule besucht.«
»Also kannst du weder lesen noch schreiben?«
»Doch, die Großmutter, bei der ich auf dem Dorf lebte, hat es mir beigebracht.«
Dann erklärt er auch die Großmutter für tot – ohne die leiseste Schwankung in der Stimme. Am dritten Tag nach ihrem Ableben sei er alleine in die Hauptstadt umgezogen. Der junge Mann scheint nicht zu wissen, dass es nach dem Tod ein Begräbnis gibt und für den einzigen Nachkommen die Auflösung des Haushaltes und Erbschaftsangelegenheiten.
Die Sozialarbeiterin hat einen starken Akzent, sie war selbst Flüchtling. Sie rät dem Jugendlichen, vor den Beamten der Flüchtlingsbehörde die Wahrheit zu sagen, sich nicht in Widersprüche zu verwickeln und alle Fragen zu beantworten. Von der mehrstündigen Anhörung hänge sein Schicksal ab, er solle es mit Fassung tragen.
»In der Hauptstadt ging ich zu einer Demonstration und wurde verhaftet. Die Polizisten haben mich geschlagen und zwangen mich, zu unterschreiben, dass ich an Raubüberfällen teilgenommen hatte. Sie brauchten einen Täter für ihre unaufgeklärten Fälle.«
Auch dies erzählt er unangestrengt. Offenbar erlebt er erst im Flüchtlingsheim gefängnisartige Zwänge. Wegen einer fünfminütigen Verspätung habe man ihm das Abendessen verweigert und ihn für eine Nacht aus dem Flüchtlingsheim ausgesperrt – er übernachtete im Park. Er ist außer sich vor so viel Ungerechtigkeit.
»Das sind die Regeln der Flüchtlingsbehörde. Du musst dich daran halten.«
Um ihn aufzumuntern, beglückwünscht sie ihn, dass er nicht in einem Atombunker mehrere Meter unter der Erde untergebracht sei, wo er sich ein Zimmer mit neunzehn Flüchtlingen aus vielen Ländern teilen müsste.
»Das würde ich nicht ertragen«, murmelt er erschrocken und klagt, dass die Wachmänner ihn einen Mafioso nennen.
»Achte nicht darauf, sie haben schlechte Erfahrungen mit deinen Landsleuten gemacht.«
Er habe einen drogensüchtigen Landsmann kennengelernt, der wollte ihn zu krummen Geschäften verleiten, aber ein älterer Flüchtling habe ihn gewarnt: »Sei misstrauisch, schaue dem Menschen in die Augen. Ist der Blick verschwommen, nimm Abstand.« Dann habe er dem Drogensüchtigen gesagt: »Du hast deinen Weg, ich habe meinen.«
»Das hast du gut gemacht.«
Seine Stimme wird wieder mechanisch, der Erzählstil nüchtern. Er habe das Fenster im Büro des Untersuchungsrichters eingeschlagen, als dieser es verlassen habe, und dann sei er rausgesprungen.
»Das ist noch kein Asylgrund. Kannst du es beweisen?«
»Nein.«
»Hast du gesundheitliche Probleme?«
»Ich fühle mich gut.«
»Wenigstens das«, sagt die Sozialarbeiterin und lächelt nie, auch nicht, als sie ihm die Hand zum Abschied reicht. Hastig zündet sie sich draußen eine Zigarette an und sagt müde zu mir:
»Er wird nach der Anhörung ins Ausschaffungsgefängnis kommen, für Wochen, gar Monate, bis sein Land ihn aufnimmt. Wäre er wirklich minderjährig, wie er es behauptet, wäre es schwieriger, aber man hat ihm gleich nach der Ankunft die Handgelenkknochen ausgemessen. Immer mischen sie ein wenig Politik in ihre Geschichten, als seien sie politisch verfolgt. Das empfehlen ihnen die Schlepper. Manchmal tun mir diese Jungs leid.«
Sie zieht den Rauch tief ein. Ihr Einfluss ist stark eingeschränkt. Das Gesicht zeigt Resignation. Und doch bäumt sie sich auf, indem sie die Schweigepflicht verletzt. Hat sie sich das gestattet, weil wir Fremde unter uns sind? Wir blicken zum Gefängnis, das neben dem Flüchtlingsheim steht. Durch die Gitterstäbe winkt uns eine Hand zu.
Die Einheimischen hatten eine gütige Seite. Ich merkte es daran, dass ich mir böse vorkam. Die Fremden bekamen das Privileg, draufloszureden, ohne
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