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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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ging.«
    In einem Park gilt nicht das Gesetz des Dschungels, das Recht des Stärkeren mit seinen Drohgebärden. Sich aufzublähen, die Stimme zu erhöhen, fiese Taktiken zu ersinnen, um etwas zu erreichen, hatte hier keine Wirkung. Es genügte doch, die eigene Aufgabe gewissenhaft auszuführen. Der Mensch musste nicht täglich hundert Hindernisse auf eine immer neue Art überwinden. Dass davon die Instinkte erschlafften und die Menschen mir fad vorkamen, war nur ein Beweis mehr dafür, dass es hier angenehm zivilisiert zuging. Sicherungen brannten selten durch, es sei denn am Leib und an der Seele. Dann war man vor lauter Absichern ausgebrannt.
    Beliebt war demonstrative Unsicherheit. Man hängte gerne »gell« und »oder« an, damit nicht der Eindruck entstand, man gäbe mit eigenem Wissen ungebührlich an und wollte eine demokratische Diskussion unterbinden. »gell« und »oder« nach jedem Satz stimmten die Gesprächspartner freundlich, sie verrieten einen höflichen Menschen, der fähig war, an sich selbst zu zweifeln. Nur keine arrogante Selbstsicherheit, gell? Natürlich war man von der eigenen Meinung überzeugt, aber der Schein musste gewahrt bleiben.
    Mara wollte zeigen, wie angepasst sie sei, und rief:
    »Grüezi, oder?«
    Bescheidenheit war der Prunk des Landes. Wenn die Reichen aus ihren Villen hinausgingen, trugen sie ausgebeulte graue Pullover zu verwaschenen Jeans. Fiel jemand in der Menge durch Protz und Farbe auf, war es ein geschmackloser Flüchtling. Der Wirtschaftsminister fuhr mit dem Trämli, der Erziehungsminister mit dem Zug 2. Klasse. Beide hatten eine Fahrkarte gekauft, und womöglich nicht vom Steuergeld. Mein Favorit war der sparsame Finanzminister, er fuhr auf dem Fahrrad, und keine Kolonne von gepanzerten Wagen flankierte ihn. Wenn ich ihn überholte, winkte er freundlich. Der Innenminister ging gar zu Fuß, erspürte das Land mit flacher Sohle. Auf dem hohen Ross saßen bloß brave Mädchen, sie trabten ihre Runden auf gestampften Bahnen. In der Vorgartenidylle verabschiedete man sich mit: »Pass ja auf dich auf«, dazu sich vor allerlei Gefahren verdüsternde Augen. Die Kinder lernten Frau Achtung als erste Bezugsperson kennen und danach all ihre furchtsamen Verwandten. Und doch wurde gestorben, immer wieder. Unspektakulär zwar, wie denn auch sonst, aber sicher.
    »Am besten man legt das Neugeborene gleich in den Sarg und öffnet einen Spalt weit den Deckel, bis die Zeit kommt, dass er zugeklappt wird«, sagte Mara.
    Der Vergleich hing mit ihrem Bauch zusammen, der sich zu wölben begann. Hier dachte man strategisch: »Wo ich sitze, dort bleibe ich auch. Wozu ein warmes Plätzchen gegen eines im Durchzug eintauschen?« Hat sich der Fötus im Mutterkuchen eingenistet, sollte er von dort nicht vertrieben werden, daher waren Abtreibungen verboten. Ein Zuwiderhandeln gegen den eigenen Bauch wurde gesetzlich geahndet. Das begonnene Werk sollte vollendet werden, egal, ob Mara unterwegs die Unlust überkam. Auch ein Fötus war ein Handelspartner, mit dem man einen Vertrag abgeschlossen hatte. Bei uns wurden Verträge beliebig gebrochen, und manch ein Fötus blieb auf der Strecke. Als Mara die Gynäkologin um einen dringenden Vertragsbruch bat, befahl ihr diese:
    »Tragen Sie das Kind aus und geben Sie es zur Adoption frei.«
    Zum Glück gab es das Ausland. Dort durfte ein Werk vorzeitig sein Ende finden. Mara kehrte mit leergesaugtem Bauch zurück.
    »Was meinen Sie, warum spricht Ihr Sohn noch nicht?«, fragt der Kinderpsychiater.
    »Weil er schüchtern ist«, erklärt der Vater.
    Wenn er morgens die Küchentür öffne, nähere er sich mit zögernden Schritten dem Frühstückstisch, ohne die Eltern anzublicken. Und wie er erst mit Unbekannten fremdle! Nur drei Wörter könne der Dreijährige sagen: »Mama, Papa und Nein.«
    Die Mutter nickt, lächelt mit gesenktem Blick, sagt flüsternd ab und zu ein Wort zum Ehemann. Dieser reibt sich die großen, rauen Hände, peinlich ist ihm das Ganze. Aber es muss sein. Die Stummheit des Sohnes ist eine ernste Sache. Mit dem Gedanken einer mächtigen Schüchternheit, die die Sprache abwürgt, sind sie hierhergekommen, in langen Monaten hat er sich in ihnen verfestigt wie eine Zauberformel. Die vierköpfige Familie ist bestrebt, nicht aufzufallen, als gäbe es ein Gen der Schüchternheit. Die Kleidung ist hellbraun, der Gang schleichend, die Mienen sind ausdruckslos, als gelte es, sich zu verkriechen. Die kurz gehaltene Sprache der Eltern erschöpft

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