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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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sich in leisen Ermahnungen an die Kinder, sich nicht zu entfernen, nichts anzufassen. Mit Landsleuten würden sie nicht verkehren, zu viel Missgunst und Zwietracht herrschten in der kleinen Landsmannschaft.
    »Kann sich Ihr Sohn anziehen und die Schuhe binden?«
    »Wir wissen es nicht, wir ziehen ihn an.«
    Der Arzt wendet sich an den Jungen:
    »Wo sind deine Knie? Wo ist dein Ellenbogen?«
    Die Eltern staunen, dass der Mensch einen Körper hat und eine Sprache dafür. Sie sind beschämt. Aber etwas kann der Junge: den Ball auffangen und ihn mit Wucht zurückwerfen. Ein Anflug von Freude und Kraft erfasst den kleinen Körper. Ja, er hat einen Körper.
    Die zweijährige Tochter beobachtet das ungewöhnliche Treiben. Blass und starr sitzt sie neben dem Vater. Auch sie spricht nur die gleichen drei Wörter wie ihr Bruder.
    »Meine Tochter wird sprechen«, sagt der Vater, als würde es eines Tages Sprache hageln. Sogleich fällt er zurück in seine ungeheuere existenzielle Scham.
    »Der Sohn sitzt den ganzen Tag am Computer, und die Tochter macht es ihm nach.«
    »Das ist schädlich«, sagt der Arzt.
    Krieg ist schädlich, Ungehorsam ist schädlich. Der Vater bemüht das ungeübte Denken. Keine Obrigkeit hat verkündet, dass Computerspiele für Kleinkinder sprachschädigend und daher untersagt sind.
    »Wenn wir es den Kindern verbieten, weinen sie«, rechtfertigt er sich.
    Das virtuelle Reich verschluckt den Körper samt der ungeborenen Sprache. Körper und Sprache. Ein Liebespaar, das täglich ermordet wird.
    Auf der Straße nehme ich den Jungen bei der Hand, stampfe mit den Füßen und renne los. Der Vater ruft, er solle sich nicht ermüden. Aber der Junge rennt mit, fällt hin und steht auf, ohne zu klagen. Er reißt sich los von der Vergangenheit, fremdelt nicht mit der, die ihn in eine bewegte Zukunft führt. Schon wieder stolpert er und fällt hin. Da fällt ein Wort aus seinem Mund heraus, wie ein Stück Apfel, das in Schneewittchens Hals stecken geblieben ist, ein richtiges Wort aus drei Silben. Ein Wort, das die Welt gebiert. Eines Tages wird der sprechende Junge aus seiner fernen Zukunft in die Vergangenheit zurückkehren und den Eltern Worte wie hart verdiente Geldscheine schenken, damit sie sich daraus ein Haus bauen.
    Ein verfrühtes Happy End. Beim nächsten Termin teilt der Arzt die Diagnose mit:
    »Die Verarbeitungszentrale im Gehirn des Jungen, die Töne in Sprache umwandelt, hat einen angeborenen Fehler.«
    Mit einer Frühförderung wird sich ein bescheidenes Haus der Sprache errichten lassen.
    Auf einmal lachten sie. Ich erschrak. Und sie lachten herzlich bei hellen, schlichten Witzen, die unschuldig wie Gänseblümchen waren. Alles kostete etwas, doch das Lachen, das in der Diktatur hart verdient werden musste, verschenkte man hier umsonst. Während sie sich entkrampften, spannten sich meine Gesichtsmuskeln an, die darauf trainiert waren, dass nur Abgründe sie lockerten. Beim Witz waren sie sträflich nachlässig, weder schliffen sie an ihm, noch gaben sie ihm eine strenge Form, noch eine raffinierte Pointe. Der Witz sollte allen Schichten zugänglich sein, transparent ehrlich, nicht zweideutig, das verriete bloß eine böse Gesinnung. Alles zur rechten Zeit. Den Ernst ins Töpfchen, den Witz ins Kröpfchen. Würde jemand einen Witz in seriöse Sphären schmuggeln, gar einen perfiden, wäre es ein Anschlag auf die Demokratie. Der Witz gehörte zur Freizeit, und er sollte nicht anstrengend sein. Wozu sich bei Witzen abmühen? Bekam man etwa Geld dafür? Allerdings durften nur Männer witzig sein. Frauen waren zuständig für die Behaglichkeit im Heim, dort hörte der Spaß auf. Sie standen im Ruf, praktisch veranlagt zu sein. Würden sie Sprachwitz servieren, könnte der Braten anbrennen. War das Heim von Frauenhand aufgeräumt, der Mann gesättigt, pflegte er ein wenig Philosophie und zum Dessert kamen Witzeleien.
    Es gab Autonome, die sich weigerten, auf Witzchen anderer angewiesen zu sein. Sie wieherten bei eigenen Sätzen, egal, ob ein Keim von Lustigkeit sie trübte oder nicht. Der traurige Lachzwang verschwand erst, wenn ich von Gräueln erzählte. Ein beliebter Komiker tat nichts anderes, als so zu reden und so zu sein, wie man es gewohnt war. Er überhöhte nichts, er war auf Anhieb liebenswürdig unbedarft, gar nicht gemeingefährlich, und sie lachten abends vor dem Fernseher über die eigene Harmlosigkeit. Der ureigene Komiker, der seine Auftritte versteuerte, durfte sie schon noch

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