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Die undankbare Fremde

Die undankbare Fremde

Titel: Die undankbare Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irena Brezna
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Übungsampeln. Es wurde ihnen beigebracht, Haltesignale von Weitem zu sichten. Der Geist lernte früh, wo er anzuhalten hatte. An jeder Geisteskreuzung, damit Ideen nicht aufeinanderprallten und zerbeult herumrasten.
    Fragte ich depressiv größenwahnsinnig:
    »Wo ist der Sinn des Ganzen?«, wurde ich sofort geerdet:
    »Achtung, es ist rot.«
    Umsichtige Fahrlehrer waren ein Vorbild für die Jugend wie anderswo verblutende Revolutionäre. Revolutionen schaute man sich aus der Ferne an, schaudernd und sich vergewissernd: Solch rückständige Gewalt haben wir längst überwunden. Für die eigene Rückständigkeit wurde kein Warnschild aufgestellt: »Vorsicht, baufällige Lage der Frau! Einsturzgefahr! Wir übernehmen die Haftung.«
    »Wenn man Sie morgen ins Flugzeug Richtung Heimat setzen würde, was würden Sie tun?«, fragt der Psychiater.
    »Das würde niemandem gelingen, ich wäre schon vorher tot.«
    »Warum sind Sie ausgerechnet in unser Land geflüchtet?«
    »Sagt man nicht in der ganzen Welt, dass dies ein humanes Land sei? Alle vertrauen ihm ihr Geld und ihre Geheimnisse an. Ich habe geglaubt, ich wäre hier gut aufgehoben.«
    »Sie haben alles auf eine Karte gesetzt und verloren.«
    Die Patientin fängt an zu beben, zuerst die Hände und die Brust, dann die Beine. Es ist über dreißig Grad heiß, aber sie trägt einen schwarzen Wollpullover, als könne das gegen die Unbehaustheit helfen.
    »Unsere Aufgabe ist der Schutz Ihrer psychischen und physischen Gesundheit, allerdings im Rahmen des Geset zes. In den negativen Asylentscheid der Migrationsbehörde können wir uns nicht einmischen.«
    Der Psychiater wiederholt jeden Gedanken drei Mal, wobei er sich nicht einmal um eine andere Wortwahl bemüht. Ich unterbreche ihn, dolmetsche kurz und bündig. Er ist erstaunt, ein großer, kantiger Mann, gewohnt an widerspruchslose Zuhörer.
    In den ersten Sätzen zeigt sich der Mensch. Das Dolmetschen ist ein Fegefeuer, alles verbrennt, nur Gold bleibt übrig. Einmal dolmetschte ich eine Sozialarbeiterin, die bei jeder Belanglosigkeit in Aufregung geriet, sodass sich ihr Hals rötete. Sie sagte alles mehrmals und mit Nachdruck und beschwerte sich bei der Leiterin des Dolmetscherdienstes, dass meine Sprache viel kürzer sei als ihre . Ich bin Recyclerin, die aus dem Wortmüll nur die nützlichsten Stücke rettet.
    Der Psychiater arbeitet mit aufgesetztem Ernst, vorgespielter Anteilnahme und standardisierten Fragen. Er gestattet sich keine unwillkürliche Handbewegung. Ein braves, sprach- und ausdrucksarmes Theaterstück. So kann man die Seelenkunde lernen wie Autofahren. Kommt man in eine Sackgasse, betätigt man den Rückwärtsgang. Erst als das Telefon klingelt und eine Kinderstimme »Papa« ruft, wird der Psychiater ein Mensch, lacht belustigt, haucht: »Mein Schatz.« Dann wird er wieder die leere Fläche, in die die Patientin alles projizieren kann. Offenbar funktioniert die Masche, denn sie sagt:
    »Ich spüre, Sie verstehen mich.«
    Gleich darauf fordert sie:
    »Machen Sie mich gesund.«
    Ich sitze neben ihr und empfinde Scham für meine Ge schlechtsgenossin. Uns gegenüber ist eine Mauer aus vier Männern – neben dem leitenden Psychiater schreiben drei junge Assistenzärzte fleißig mit, dringen in ihr Inneres ein, um es auseinanderzunehmen. Später werden sie unter sich fachsimpeln.
    Als die Patientin beichtet, sie sei zu feige gewesen, sich umzubringen, hofft der Psychiater, diese gute Eigenschaft werde sie sich bewahren.
    »Können Sie mir Ihr Wort geben, dass Sie sich in unserer Klinik nichts antun?«
    Sie reichen sich über den Tisch feierlich die Hände. Das ist eine Ritualhandlung im Umgang mit Selbstmordkandidaten. Man schließt einen Pakt mit dem Leben ab, erhebt die Patientin in den Rang einer vertragswürdigen Partnerin, nimmt ihr Ich in die Pflicht. Der Freitod ist Vertragsbruch.
    Da sagt der Psychiater etwas, das besser wirkt als jeder Vertrag:
    »Ich werde an die Migrationsbehörde schreiben, dass Sie sich in einer akuten Selbstgefährdungsphase befinden. Die Stabilisierung mit Medikamenten wird einige Wochen in Anspruch nehmen. So lange sind Sie nicht reisefähig.«
    Die Patientin bedankt sich überschwänglich, und der Psychiater gibt ihr als Denkanstoß eine unrevolutionäre Weisheit mit, die er für realitätsnah und somit für gesund hält:
    »Sie suchen die Gerechtigkeit, aber die gibt es nicht im Leben. Sie wissen doch, wie es dem Propheten ergangen ist, der auf dem gerechten Weg

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