Die undankbare Fremde
kein Paradies.«
Doch die Patientin kennt ihr Ziel:
»Hier achtet man die Menschenrechte.«
Im Lärm der Bomber, im Geschrei der Verletzten und in der Stille der Toten hat sie von Menschenrechten gehört. Menschenrechte sind ein heiles Haus mit einem großen Dach, wo ihr Engelwesen in Weiß liebevoll Chemotherapie einspritzen.
Die Ärztin warnt:
»Es wird nicht leicht für Sie und Ihren Sohn sein, Sie sind hier in der Fremde.«
»Fremde? Die Fremde mit ihrem Schrecken haben wir hinter uns gelassen. Nein, wir sind nach Hause gekommen.«
Das Krebsgeschwür hat die Haut ihrer linken Brust durchbrochen, und wenn sie kein Schmerzmittel nimmt, stöhnt sie. Auch das Kreuz tut ihr weh. Dorthin ist der Krebs von der Brust her gewandert. Und wenn sie Treppen steigt, hindert sie der Lungenkrebs am Atmen.
»Warum haben Sie es so weit kommen lassen?«, schüttelt die Ärztin den Kopf.
Sie war doch damals im zerbombten Krankenhaus und begegnete Frauen jeden Alters, die ihre Brüste opferten, um noch ein wenig weiterzuleben. Die Gynäkologin ertastete einen Knoten und befahl barsch: »Die Brust muss weg!« Sie widersetzte sich empört, sie hatte schon so viel verloren, und niemand erklärte ihr, dass ihre Sturheit tödlich sein würde. Wer nicht unter den Raketen oder der Folter starb, den erwischt jetzt der Krebs, sagt man in ihrem befriedeten Land. Krebs zu bekommen ist keine Verletzung der Menschenrechte. Die internationale Gemeinschaft wird deswegen keine Sanktionen verhängen.
Wochen später liegt die Patientin auf dem Spitalbett in der untergehenden Sonne, der sie den Rücken zukehrt. Die Psychologin hat ein breites Lächeln aufgesetzt, das sie nicht mehr abnimmt. Es ist ihr Arbeitsgerät. Die Patientin hält es für echt, murmelt:
»Alle sind so nett.«
Sie bekommt vor der Bestrahlung Morphium, das macht sie fahrig. Sie setzt auf den Gehorsam, als wäre der Krebs ein Despot, der sich dadurch besänftigen ließe.
»Ich schlucke die Medizin, komme pünktlich zur Bestrahlung. Andere würden es auf die leichte Schulter nehmen und sich verspäten.«
Die Psychologin sät routiniert Zweifel:
»Was wäre, wenn die Medizin versagen würde?«
»Nicht die Medizin, Gott entscheidet. Gott lässt mich leben.«
»Und falls Gott anders entscheidet?«
Die Psychologin nimmt ihr mit geübtem Griff die Hand:
»Haben Sie Ihrem Sohn gesagt, wie es um Sie steht?«
Die Patientin schaut mich hasserfüllt an, als käme das Bohren von mir. Sie nennt mich zischend beim Vorna men, wie eine Schlange, die sich zur Wehr setzt. Ich ertrage ihren Blick kaum noch, der mal angreift, mal um gute Botschaften fleht. Auf einmal löst sich die Sorge um sie. Ich muss doch nicht den ganzen Menschen, sondern nur seine Worte auf der Sprachfähre hinüberbringen.
Die Psychologin will den Fall abschließen:
»Sie haben Ihren Sohn sicher gut auf das Leben vorbereitet. Haben Sie Verwandte in Ihrem Land?«
»Nein, mein Mann ist tot.«
Von ihren Landsleuten erfuhr ich, dass ihr Mann mit einer jüngeren Frau lebt, mit der er fünf Kinder hat. Der Sohn hat einen Vater, zu dem man ihn nach ihrem Tod zurückschicken könnte. Gilt er jedoch als vaterlos, darf er hier als unbegleiteter Minderjähriger bleiben. Auf meiner Zunge bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück, auf der Zunge, die der Lüge ein Sprachkleid verpassen muss.
Die Leiterin des Dolmetscherdienstes hat zum Thema »Lüge« eine klare Direktive herausgegeben:
»Es ist nicht die Aufgabe einer Dolmetscherin, die Wahrheit zu suchen.«
Die Psychologin verabschiedet sich von mir:
»Wir brauchen Sie nicht mehr. Der Tumor wächst schnell. Die Patientin kann jederzeit ins Koma fallen.«
Doch sie lebt noch eineinhalb Jahre, und kurz vor dem Tod kehrt sie in ihr Land zurück, um dort zu sterben. Der Sohn begleitet sie und lebt seither bei seinem Vater.
Mara und ich suchten nach Wegen zu den Herzen der Einheimischen. Wer den Weg kannte, dem ging es gut. »Bisch zwäg?«, lautete die besorgte Frage nach dem Wohlergehen. Ich begab mich auf Feldforschung, fragte Spaziergänger nach dem Weg, sie gingen aus sich heraus und führten mich gar persönlich ans Ziel. Unterwegs redeten sie liebevoll über Weggabelungen. Dann experimentierte ich mit Hunden, grüßte die Bulldogge, die mich ansprang, erkundigte mich nach ihrem Namen und schon wurde ich beschenkt mit Informationen über die Diät und die Stuhlkonsistenz. Die Hundebesitzer waren wohltuend gesprächig, allerdings blieben sie bei der Sache,
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