Die unendliche Geschichte
zurückgelassen hast. Er befindet sich jetzt an einem Ort, wo all seine Wunden heilen und all seine Kräfte erneuert werden. Und auch du, Atréju, wirst bald an jenem Ort sein.«
Ihre Finger spielten mit AURYN.
»Welcher Ort ist das?«
»Das brauchst du jetzt nicht zu wissen. Du wirst schlafend dort hingelangen. Der Tag wird kommen, an dem du erkennen sollst, wo du warst.«
»Aber wie kann ich schlafen«, rief Atréju und vor Besorgtheit vergaß er jede rücksichtsvolle Ausdrucksweise, »wenn ich weiß, daß du jeden Augenblick sterben kannst!«Die Kindliche Kaiserin lachte wieder leise.
»Ich bin nicht ganz so verlassen, wie du glaubst. Ich sagte dir schon, daß es manches gibt, was für dich unsichtbar ist. Ich habe meine sieben Mächte um mich, die zu mir gehören wie zu dir deine Erinnerung oder dein Mut oder deine Gedanken. Du kannst sie nicht sehen, noch hören, und doch sind sie alle bei mir in diesem Augenblick. Drei von ihnen will ich bei dir und Fuchur lassen, damit sie euch betreuen. Vier nehme ich mit mir und sie werden mich begleiten. Du aber, Atréju, kannst getrost schlafen.«
Bei diesen Worten der Kindlichen Kaiserin fiel plötzlich alle Müdigkeit, die während der Großen Suche in ihm entstanden war, über Atréju wie ein dunkler Schleier. Aber es war nicht die steinschwere Müdigkeit der Erschöpfung, sondern eine ruhevolle und friedliche Sehnsucht nach Schlaf. So vieles hatte er die Goldäugige Gebieterin der Wünsche noch fragen wollen, doch nun war ihm, als habe sie durch ihr Wort allen Wünschen in seinem Herzen Einhalt geboten und nur einen einzigen, übermächtigen übrig gelassen, den nach Schlaf. Die Augen fielen ihm zu und sitzend, ohne umzusinken, war er schon ins Dunkel hinübergeglitten.
Die Turmuhr schlug elf.
Wie aus weiter Ferne hörte Atréju noch, daß die Kindliche Kaiserin mit leiser, sanfter Stimme einen Befehl gab, dann fühlte er sich von mächtigen Armen behutsam emporgehoben und fortgetragen.
Lange war es dunkel und warm um ihn. Viel, viel später erwachte er einmal halb, als ein köstliches Naß seine trockenen, aufgesprungenen Lippen berührte und durch seine Kehle rann. Undeutlich sah er um sich etwas, wie eine große Höhle, deren Wände nur aus Gold zu bestehen schienen. Und er sah den weißen Glücksdrachen neben sich liegen. Und dann sah er oder ahnte es mehr, daß in der Mitte der Höhle eine Quelle sprudelte, und um diese Quelle lagen zwei Schlangen, die einander in den Schwanz bissen, eine helle und eine dunkle… Aber dann strich eine unsichtbare Hand über seine Augen, und das tat unsagbar gut, und Atréju versank wieder in tiefen traumlosen Schlaf.
Zur gleichen Zeit verließ die Kindliche Kaiserin den Elfenbeinturm. Sie lag auf weiche, seidene Kissen gebettet in einer Sänfte aus Glas, die von vieren ihrer unsichtbaren Diener getragen wurde, so dais es den Anschein hatte, als schwebte diese Sänfte langsam von selbst dahin.
Sie durchquerten das Gartenlabyrinth, oder vielmehr, das was davon noch übrig war, oft mußten sie Umwege machen, da viele der Pfade schon ins Nichts mündeten. Als sie schließlich den äußersten Rand der Ebene erreichten und das Labyrinth verließen, hielten die unsichtbaren Träger inné. Sie schienen auf einen Befehl zu warten. Die Kindliche Kaiserin richtete sich in ihren Kissen auf und warf einen Blick zurück auf den Elfenbeinturm.
Und während sie in ihre Kissen zurücksank, sagte sie: »Geht weiter! Geht einfach weiter irgendwohin!« Ein Windstoß fuhr in ihr schneeweißes Haar. Es wehte lang und schwer wie eine Fahne hinter der gläsernen Sänfte her.
Lawinen stürzten donnernd über zerklüftete Bergwände, Schneestürme tobten zwischen den Felsentürmen eisgepanzerter Gipfelgrate, verfingen sich heulend in Höhlen und Schluchten, und fegten von neuem über die weiten Flächen der Gletscher. Es war für diese Landschaft durchaus kein ungewöhnliches Wetter, denn das Schicksalsgebirge - so war sein Name - war das größte und höchste in ganz Phantasien und sein mächtigster Gipfel reichte buchstäblich bis in Himmelshöhen hinauf.
In diese Region des ewigen Eises wagten sich auch die kühnsten Bergsteiger nicht. Oder genauer gesagt: Es war schon so undenkbar lange Zeit her, daß einem der Aufstieg gelungen war, daß niemand mehr davon wußte. Denn dies war eines der unbegreiflichen Gesetze, von denen es im phantåsischen Reich viele gab: Das Schicksalsgebirge konnte erst dann von einem Gipfelstürmer bezwungen
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