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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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zu Hause bleiben, trotzdem wusste er nicht, wieso er hier keine besseren Freunde hatte.
    Gary nahm seine Werkzeuge und blickte auf den See. Kleine Wellen, ein bisschen Wind, nicht wie vor zwei Tagen. Kein Regen. Er würde Irene holen, und sie würden eine weitere Ladung rüberfahren. Es war fast elf, schon spät, aber etwas würden sie noch schaffen.
    Zu Hause lag Irene noch immer im Bett.
    Das Wetter ist besser, sagte er. Wir könnten eine Ladung rüberfahren.
    Mach das Licht aus, sagte sie und rollte sich auf die andere Seite.
    Was ist? Fühlst du dich nicht gut?
    Ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Schlimm wie noch nie.
    Irene, sagte er, Reney-Rene. Er machte das Licht aus, setzte sich aufs Bett und legte einen Arm über sie. Ziemlich dunkel hier, die dicken Vorhänge geschlossen, Licht nur von der Tür. Seine Augen hatten sich noch nicht darauf eingestellt, daher sah er sie nicht deutlich. Willst du eine Aspirin oder eine Advil?
    Hab ich versucht. Wirkt nicht. Überhaupt nicht. Sie klang erschöpft.
    Tut mir leid, Irene. Vielleicht sollte ich dich zum Arzt fahren.
    Lass mich einfach schlafen.
    Er küsste sie auf die Stirn, die sich nicht heiß anfühlte, ging hinaus und machte die Tür zu. Dann öffnete er sie wieder. Magst du was zu Mittag essen?
    Nein. Nur schlafen.
    Okay, und dann machte er sie wieder zu.
    Gary ging in die kleine, zu vollgestopfte Küche und holte Räucherlachs aus dem Kühlschrank, Kapern, Gewürzgurken und Cracker und setzte sich an ihren dunklen Holztisch. Wie eine Methalle, der dunkle Tisch und die Bänke beim Ofen. Ein großer Steinofen, etwas, das er sich immer gewünscht hatte. Aber es war zu klein hier, zu eng, die Decken zu niedrig. Es wirkte billig, nicht echt. Teppich auf dem Boden anstatt Holz. Er hatte Teppich noch nie ausstehen können. Irene hatte Teppich gewollt, das sei wärmer. Er hätte Holz haben wollen oder sogar Stein. Schieferplatten. Er wusste noch nicht, was in der Hütte auf dem Boden liegen würde. Vielleicht einfach gar nichts. Nackte Erde oder Holz.
    Normalerweise spielten sie mittags Binokel, also wusste Gary nicht, was er tun sollte. Er streckte sich zum Bücherregal und zog seinen Beowulf heraus, legte ihn auf den Tisch, ohne ihn zu öffnen.
    Hwaet . We Gar-Dena , rezitierte er und ließ die Auftaktzeilen folgen. Ein Taschentrick. Er kannte die ersten Zeilen von Beowulf noch immer auswendig, auch »The Seafarer« auf Altenglisch und Chaucers Canterbury Tales auf Mittelenglisch und die Aeneis auf Lateinisch, aber richtig lesen konnte er die Sprachen nicht mehr. Er konnte ein paar Zeilen übersetzen, mühsam mit Hilfe eines Wörterbuchs und seiner Aufzeichnungen von vor dreißig Jahren, aber lesen nicht. Das war ihm abhanden gekommen, und seine Bemühungen alle paar Jahre, es sich zurückzuholen, hielten nie länger als ein, zweiWochen, dann war immer irgendetwas, erforderte irgendwas anderes seine Aufmerksamkeit.
    Der Lachs so gut, dass er die Augen schloss. Weißer Königslachs, kräftigeres Fleisch, etwas fetter, selten, aber letzten Sommer hatte er einen gefangen und sanft geräuchert und jetzt immer noch ein paar eingeschweißte Pakete übrig. Er musste unbedingt fischen, bevor die Saison zu Ende war, und bei der neuen Hütte einen Räucherofen anwerfen.
    Gary blickte durch die Bäume auf den See, aß den Lachs, wusste, dass er sich glücklich schätzen sollte, empfand jedoch nichts als eine milde, untergründige Panik – wie sollte er durch den Tag kommen, wie sollte er die Stunden füllen. Sie begleitete ihn, seit er erwachsen war, vor allem abends, vor allem, als er noch Single war. Nach Sonnenuntergang schien ihm die Zeit bis zum Schlafengehen eine unmögliche Spanne, etwas Drohendes, ein Nichts, unmöglich zu überwinden. Das hatte er noch nie jemandem erzählt, nicht mal Irene. Es würde klingen, als wäre er irgendwie gestört. Er bezweifelte, dass es irgendjemand wirklich verstehen würde.
    Also, sagte Gary und stand auf. Er musste sich bewegen. Irene würde ihm heute nicht helfen, aber etwas musste er tun. Er würde Mark oder Rhoda um Hilfe bitten müssen. Er spülte Teller und Gabel ab, ging hinaus und schlug den Pfad zu Marks Haus ein.
    Gut ausgetreten inzwischen, ein Weg um Erlendickicht herum und in Fichtenwald hinein. Er hätte vor Jahren mit einer Machete herkommen und einen direkten Pfad schlagen sollen. Doch die Kehren und Schleifengefielen ihm auch, die Triebe, die er zu Bäumen hatte heranwachsen sehen, im Wandel der Jahreszeiten, alles

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