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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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was, sagte sie. Irgendwas stimmt nicht.
    Es tut mir leid. Ich gebe dir die Rezepte. Aber da ist einfach nichts.
    Irene wartete, bis sie sich im Griff hatte, versuchte vergeblich, sich zu schnäuzen, nahm die Rezepte, zahlte und musste Gary im Wartezimmer berichten. Auf den Röntgenbildern ist nichts, sagte sie.
    Was?
    Ich weiß, dass da was ist. Es ist nur nicht zu sehen.
    Irene, sagte er, und nahm sie in den Arm. Es tut mir leid, Irene. Aber vielleicht ist das eine gute Nachricht. Vielleicht geht es dir bald besser.
    Nein, ich hab was.
    Ich fahre dich nach Hause, sagte er. Wir machen es dir am Kamin gemütlich.
    So machten sie es. Sie lösten die Rezepte ein, fuhren nach Hause, über all die Rillen und Huckel, eine Qual für Irene, und Gary trug Decken zum Kamin, bettete Irene auf die Couch, machte ein schönes Feuer.
    Ein Steinkamin, ein schönes Zuhause, ein Ehemann, der es ihr bequem machte. Vielleicht ist dieserfürchterliche Schmerz doch noch zu was gut, dachte Irene. Vielleicht bringt er uns einander näher. Vielleicht erinnert sich Gary an mich. Eine seltsame Lebensphase, die Kinder aus dem Haus, die Arbeit weg, nur Gary noch da und nicht der Gary von früher. Der Ruhestand gefiel ihr nicht. Bis vor wenigen Monaten hatte sie noch jeden Tag mit den Kindern in der Schule gesungen und getanzt. Drei- bis Fünfjährige, die spielerisch lernten, ihren Interessen folgten, von Wurmgärten über Dinosaurier bis zum Bauen von Eisenbahnen, die bis Russland fahren konnten und von dort weiter nach Afrika. Sie setzten sich auf ihren Schoß, schmiegten sich an.
    Gary machte ihr einen Tee, sie nippte, hielt den heißen Becher in den Händen. Sie hatte ihre neue Medizin auf dem Nachhauseweg im Pickup genommen und wartete noch immer auf die Wirkung.
    Der Schmerz geht nicht weg, sagte sie zu Gary. Ich spüre überhaupt nichts von den Tabletten. Was für Schmerzmittel hat er mir gegeben?
    Gary öffnete die Apothekentüte. Sieht nach Amoxicillin als Antibiotikum aus, dazu ein Schleimlöser, den ich nicht aussprechen kann, und Aleve als Schmerzmittel.
    Aleve?
    Genau.
    Diese kleine Mistgeburt. Aleve ist einfach Advil. Ruf Rhoda an. Ich brauche mehr Vicodin.
    Irene. Du solltest dich an die Rezepte halten. Er sagt, auf den Röntgenbildern ist nichts zu sehen.
    Die Röntgenbilder lügen.
    Wie können Röntgenbilder lügen?
    Keine Ahnung. Sie lügen.
    Rhoda blieb lange bei der Arbeit, bis Dr. Turin und alle anderen gegangen waren. Ich erledige nur noch den Schreibkram, hatte sie gesagt. Aus dem Schrank mit Arzneimustern nahm sie das restliche Vicodin, das versehentlich geliefert worden war. Ein einwöchiger Vorrat, und mehr würden sie nicht bekommen. Sie würde noch etwas anderes brauchen.
    Sie fand Tramadol, ein weiteres Schmerzmittel, und recherchierte es im Netz. Es schien auch für Menschen geeignet. Das war ein Kündigungsgrund, vielleicht sogar strafbar. Frank hätte etwas verschreiben sollen. Sie könnte Jim um ein Rezept bitten, aber sie wollte die Beziehung nicht belasten.
    Auf dem Weg zu ihren Eltern dachte sie an die Hochzeit. Jim hatte ihr noch keinen Antrag gemacht, aber gesprochen hatten sie darüber, indirekt. Sie wollte auf Hawaii heiraten, und er hatte eingewilligt, so gut wie. Sie wollte keine Kälte, keine Mücken und keine Spur von Lachs. Kein Elchgeweih im Nebenzimmer und keine Watstiefel. Sie wollte Kauai, entweder Waimea Canyon oder Hanalei Bay. Eine Trauung am Strand oder mit Blick aufs Meer oder den Canyon, irgendetwas Schönes. Kokospalmen, große Obstschalen, Guavennektar, Macadamianüsse. Ein altes Plantagenhaus vielleicht, weiß mit überdachter Veranda, dem ganzen Geschnörkel aus Holz und Geländern. Paradiesvogelblumen auf den Tischen, lange schlanke Stängel undbuntes Gekräusel. Vielleicht auch richtige Vögel, Papageien oder so.
    Und vielleicht trage ich eine Augenklappe, sagte Rhoda laut und grinste. Armer Jim. Du hast ja keine Ahnung, was du dir da einhandelst.
    Sie bog Richtung See ab, hüpfend und klappernd über die zerklüftete Straße. Eigentlich wollte sie etwas mit Stil. Sie wollte nichts Billiges. Sie wollte es gediegen, und das war schwierig, bei ihrer Familie. Mark wäre zweifellos bekifft, und ihr Vater würde bei der ersten Gelegenheit seinen Smoking ausziehen wollen. Ihre Mutter würde es meistern. Sie wollte den Ort sehen, bekam aber nur Hochzeitsfragmente, die zusammenhanglos umherschwebten. Vielleicht sollte sie mit Jim eine Erkundungstour nach Hawaii unternehmen. Sie musste die

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