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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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fragte sich allmählich, ob er sie nicht als Fußboden hätte nehmen und darauf bauen sollen. Was war an nacktem Boden besser? Diese ganze Fläche wurde bei Regen zur Schlammgrube.
    Gary legte sich auf den Boden und schloss die Augen. Der Geruch nach Erde, Holzfäule, Stinkkohl. Mücken summten an seinen Ohren. Er hatte Insektenschutz aufgetragen, aber das schreckte sie mal wieder nicht ab. Er öffnete die Augen, und der Himmel drehte sich. Sein Puls in den Schläfen, der Kopf ein wenig schwindlig.
    Vor dreißig Jahren war dieser Ort neu gewesen. Und er war jünger gewesen, sein Traum noch frisch, erreichbar. Die Luft klarer, die Berge schärfer gezeichnet gegen den Himmel, der Wald lebendiger. So ungefähr. Irgendein beseeltes Weltgefühl, das sich mit der Zeit auflöst. Wir bekommen eine Gabe, aber sie ist zerbrechlich, unbeständig. Nun war dieser Ort eher eine Idee, ausgehöhlt, substanzlos. Zu Mücken reduziert und einem müden alten Körper und normaler Luft. Er sollte hier draußen leben, aber damals.
    Irene hielt ihn einfach nur für verbittert, eine Charakterschwäche. Sie erkannte nicht die Gestalt der Welt, die Gestalt eines Lebens. Sie verstand nicht die riesigen Unterschiede. Er hätte sich jemand Klügeres aussuchen sollen, hatte stattdessen die Sicherheit gewählt. Und sein Leben dadurch kleiner gemacht.
    Aber er musste sich konzentrieren. Ich muss das durchdenken, sagte er laut und versuchte, klar zu denken. Er baute eine Schlammgrube. Die Baumstämme darin würden Dämme bilden, eine Art Becken zum Wassersammeln. Er baute eine Zisterne, keine Hütte. Aber dann war er in Gedanken beim Mittagessen, bei Irene und ihren Kopfschmerzen, bei Rhoda und der Frage, ob sie oder Mark jemals zum Helfen rauskommen würden. Er schweifte ab, ging in die Irre, keine Konzentration. Einst ein klarer Kopf, nun beschränkt.
    Okay, sagte er. Ein Podest, ich brauche ein Podest. Und er sah, dass es stimmte. Ein Holzpodest, ein Fußboden, etwa fünfzehn Zentimeter über der Erde, eben. Dann würde er seine Wände darum bauen.
    Er stand auf und beschloss, eine Wanderung zu machen. Heute war es zu spät, Material für das Podest zu holen, da konnte er genauso gut ein wenig die Insel erkunden.
    Er stapfte zu den Birken am Grundstücksende hinauf und lief weiter, bis er einen Pfad fand. Viel einfacher, dem zu folgen, ein Wildpfad mit festerem Boden. Birke und Fichte überall hier, kein Blick aufs Wasser, und er kam zu einer leeren Hütte. Eine Blockhütte wie die, die er sich vorgestellt hatte, mit Stämmen, die viel dicker waren als seine, ungefähr dreißig Zentimeter. Er fragte sich, wo sie die gefunden hatten. Er betrachtete sie von nahem, überlegte, wie sie die Stämme so passend hingekriegt hatten. Etwas in den Zwischenräumen, aber was, konnte er nicht sagen. Inzwischen von Moos und Spinnweben überzogen. Er spähte durch ein kleines Fenster und sah einen weißen Ausguss, einen dunklen Holzofen. Er ging hinten herum, eine große Hütte, noch zwei Räume, und spähte durch weitere Fenster, versuchte, den Boden zu erkennen. Sah nach Brettern aus. Dann kniete er sich zu den Kanten, suchte nach einem Hinweis, wie die Wände auf den Boden trafen, aber in den Wänden waren keine Zwischenräume, nichts zu sehen.
    Tja, sagte er und stand wieder auf. Daran kann ich mich orientieren. Und er fragte sich, wieso hier irgendjemand baute. Kein Seeblick, bloß ein Außenposten zwischen Bäumen. Kein Wunder, dass er leer stand. Das würde er besser machen.

I rene wartete den ganzen Tag, allein im Bett, mit Blick
    auf die Deckendielen. Ihr Mann war draußen auf der Insel, ihre Kinder arbeiteten, das Vicodin machte sie schwindelig und schwach, beklommen. Das Zimmer zu hell in der Sonne, aber sie hatte nicht die Kraft, aufzustehen und die Vorhänge zu schließen. Keiner scherte sich drum, was hier mit ihr geschah. Sie könnte ebenso gut sterben.
    Selbstmitleid, sagte sie laut. Nicht schön. Und es ähnelte zu sehr dem Gefühl jener Jahre, nachdem ihre Mutter gestorben war, nachdem ihr Vater gegangen war. Von einem entfernten Verwandten zum nächsten, herumgereicht in Kanada und danach Kalifornien, unerwünscht, zu oft allein.
    Sie warf noch eine Vicodin ein, der Schmerz baute sich wieder bis zur Zerreißgrenze auf, und zunächst spürte sie nichts, nach fünfzehn, zwanzig Minuten aber fühlte sie das prickelnde kalte Gleiten in Schwindel und Vergessen, eine willkommene Erleichterung. Ihr Kopf verschwand oder sie nahm ihn nicht mehr wahr,

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