Die Unermesslichkeit
Kellner und Kellnerinnen klatschten jetzt, über einen riesigen leeren Raum hinweg. Danke, rief Rhoda ihnen zu und rang sich ein Lächeln ab.
Rhoda, sagte Jim und setzte sich wieder auf seine Seite. Es ist gut. Du wirst es ihr bald sagen können.
Ich will es ihr jetzt sagen. Ich will, dass meine Mom es weiß.
Jim warf einen Blick über die Schulter auf das Restaurantpersonal, winkte kurz. Rhoda, die werden annehmen, dass etwas nicht stimmt. Du siehst so unglücklich aus.
Ich glaube, ich muss gleich weinen, sagte sie, und dann weinte sie. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Das Klatschen versiegte, und keiner kam herüber. Rhoda versuchte sich zu beherrschen, aber sie wollte ihre Mutter hier haben, und sie hatte Angst, dass etwas passiert sein könnte. Ich habe Angst, dass sie verletzt sind, sagte sie zu Jim. Man kann sie überhaupt nicht erreichen.
Rhoda, hörst du bitte auf zu weinen? Ich will nicht, dass diese Leute einen falschen Eindruck kriegen.
Schön, sagte Rhoda, nahm die Hände vom Gesicht und tupfte sich die Augen mit ihrer Serviette. Ich werde dich nicht blamieren, das ist ja jetzt das Wichtigste.
Rhoda. So ist es nicht. Sie verstehen es bloß nicht.
Ich gehe zurück zur Arbeit, sagte sie. Und sie stand auf, nahm ihre Handtasche und ihren Regenmantel.
Bitte, sagte Jim.
Wir sehen uns heute Abend. Ich fahre nach der Arbeit zu ihrem Haus.
In diesem Regen? Das sind vierzig Minuten, und dann der Kiesweg.
Wir sehen uns heute Abend. Sie marschierte durch dieEingangstür, ohne die Belegschaft zu beachten, die sie bestimmt geschlossen anstarrte, und rannte durch den Regen zu ihrem Wagen, wo sie so viel weinen konnte, wie sie wollte, den ganzen Weg zurück zur Arbeit.
Als sie dort ankam, wischte sie sich das Gesicht mit einem Kleenex, und keiner fand etwas dabei, weil ihre Augen hier ohnehin immer verquollen waren. Sie konnte sich verstecken. Sie wusch einen grauen Terrier und fragte sich, weshalb es ihr so mies ging. Sie liebte Jim. Sie wollte Jim gern heiraten. Mehr wollte sie im Grunde gar nicht. Aber irgendwie wurde das alles dadurch zunichte gemacht, dass sie es ihrer Mutter nicht erzählen konnte, und das verstand sie nicht. Sie fühlte sich leer und allein und hatte Angst, wo sie doch eigentlich glücklich sein sollte.
Der Nachmittag zog sich ewig hin, ein Flohbad nach dem anderen. Sie hatte kleine Bisse an den Armen und fühlte es in ihrem Haar krabbeln. Vor allem die kleineren Hunde waren Flohschwämme.
Sie musste lange arbeiten, bis nach sieben, die Zeit kroch voran und kein Anruf von Jim, kein Besuch, um nach ihr zu sehen. Sie packte zusammen, eilte durch Kälte und Regen zu ihrem Wagen und nahm den Highway Richtung See. Tief stehende Sonne, die so viel früher unterging als noch vor wenigen Wochen. Sie drehte das Gebläse auf, hatte die Scheibenheizung laufen.
Rhoda ärgerte sich, dass Jim weder angerufen hatte noch vorbeigekommen war, aber sie versuchte, zuversichtlich zu bleiben. Sie würden diesen Winter auf Kauai heiraten, vielleicht in Hanalei Bay. Doch der Gedankedaran erschöpfte Rhoda. All die Jahre des Träumens, und jetzt, da es passierte, konnte sie sich nicht mal darauf konzentrieren. Danke, Mom und Dad, sagte sie. Und danke, Jim.
So viel Wasser auf der Straße. Ein Truck bretterte vorbei und sprühte sie dermaßen voll, dass sie einen Augenblick lang gar nichts sehen konnte. Blindfahrt bei sechzig Meilen die Stunde. Sie ging vom Gas.
Endlich tauchten die von Kugeln durchsiebten Hinweisschilder zum See auf, und sie bog in den Kiesweg ein. Sie wusste nicht, wieso sie hier rausfuhr. Die beiden würden nicht zu Hause sein. Und sie sollte bei Jim sein. Aber sie musste einfach nachsehen.
Sonst niemand auf dieser Straße. Ein langer, einsamer Kiesbogen mitten im Nirgendwo. Der Sommerverkehr vorbei. Bäume durchgepustet und gebeugt. Kies laut an der Unterseite ihres Wagens, die Windschutzscheibe schlierig und dann klar und dann wieder bedeckt, entlang der Ränder beschlagen.
Sie fuhr bei ihren Eltern vor und lief schnell zur Haustür, aber hier war schon eine Weile keiner mehr gewesen. Kleine Äste auf dem Zugang. Sie hämmerte an die Tür, aber natürlich keine Reaktion. Blickte hinunter aufs Unkraut in den Pflanzkübeln. Kälter hier als in Soldotna. Dunkel und windig, nah an den Bergen und dem Gletscher. Rhoda wusste nicht, was sie tun sollte. Sie brauchte unbedingt Gewissheit, dass ihre Mutter wohlauf war.
Sie lehnte sich an die Haustür, legte die Wange daran und schloss
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