Die Unermesslichkeit
sie.
Ja.
Woran denkst du?
»The Seafarer«. Calde gethrungen , trug er ihr vor, waeron mine fet, forste gebunden, caldum clommum, thaer tha ceare seofedun hat ymb heortan .
Und was heißt das?, fragte sie. Du willst ja, dass ich dich frage.
Von Kälte gezwickt waren meine Füße, von Frost gefesselt, von kalten Ketten, caldum clommum , dort seufzten die Ängste mir heiß ums Herz.
Ja, du hast es schwer, sagte sie.
Was weißt denn du schon?
D er Sturm kam aus kälteren Gefilden, ein früher Herbst, der einen frühen Winter versprach. Die Beringsee drückend, die Arktis spürbar nah. Die Blätter hatten sich bereits verfärbt, und es war noch September. Die Espen inzwischen golden und gelb. Rhoda hatte den Übergang nicht bemerkt. Es schien, als hätten sich die Blätter über Nacht verfärbt und die Wohnmobile verzogen. Die Straßen wirkten leer, dichte Regenbänder zogen vorbei, kein Mensch auf der Uferpromenade, als sie die Brücke überquerte. Der Fluss angeschwollen und schnell, die Lachse bereits verrottet, ihre verzweifelte Wanderung beendet. Morgens jetzt dunkler, das Licht schnell verschwunden.
Seit über einer Woche schon erreichte Rhoda ihre Mutter nicht, und inzwischen konnte sie an nichts anderes denken als an ihre Mutter und ihren Vater dort draußen auf dieser Insel im Sturm. Kalt jetzt, nahe dem Gefrierpunkt, und sie wohnten im Zelt und bauten eine Hütte. In diesem Wetter konnten sie allerdings gar nicht bauen. Also Tag und Nacht im Zelt, in Wartestellung. Sie mussten ja verrückt werden. Oder einer von ihnen konnte sich verletzen, und es war zu rau, um mit dem Boot Hilfe zu holen. Rhoda wusste nicht, ob noch jemand anders dort draußen war. Nur Sommerhütten noch auf Caribou. Früher lebten da ein halbes DutzendFamilien das ganze Jahr über, aber jetzt waren ihre Eltern wohl die Einzigen.
Rhoda tat sich schwer bei der Arbeit. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie kam fast eine Viertelstunde zu spät, begrüßte Dr. Turin und Sandy vom Empfang und zog den Regenmantel aus. Ging ins Hinterzimmer und begrüßte Chippy, einen Arktischen Ziesel, den irgendein Schwachkopf als Haustier aufgezogen hatte. Sein Schwanz zu klein, wie der eines Streifenhörnchens. Bären-Burrito. Tundra-Ratte. Aber irgendwie hatte er Glück gehabt und war seinem Schicksal entronnen. Er würde den ganzen Winter über Heizung haben, den Winterschlaf überspringen, sich von Katzenfutter ernähren und fernsehen. Wie würde sein kleines Hirn das alles verkraften?
Rhoda sah sich den Tagesplan an. Hauptsächlich Flohbäder. Wenig los, seit die unangemeldeten Besucher gen Süden weitergezogen waren. Sie war zum Mittagessen mit Jim verabredet. Er wollte sie nett ausführen – eine Überraschung, hatte er gesagt, wobei es in der Stadt nur eine Handvoll nette Restaurants gab, insofern würde sich die Überraschung in Grenzen halten.
Ein Summen von Sandy, und Rhoda ging nach vorn, um einen Mops namens Corker abzuholen, nach hinten mitzunehmen und in die Wanne zu setzen. Er hätte gern nach irgendwelchen Gliedmaßen geschnappt, das merkte sie, aber sie blieb hinter ihm und machte ihn gefügig.
Jim hatte sie sich auch gefügig gemacht in der letzten Woche. Unbeabsichtigt. Sie hatte die Hoffnungaufgegeben, eingesehen, dass es nicht funktionierte, und dadurch irgendwie Oberwasser bekommen. Sie fühlte sich wie die wandelnden Toten, schlaflos vor Sorge um ihre Eltern, unattraktiv und zur Jungfernschaft verdammt, und irgendwie machte das Jim scharf. Das war so idiotisch, dass sie gar nicht erst versuchen wollte, es zu verstehen, denn im Endeffekt würde er sich ihrer doch wieder sicher sein, wie immer schon. Sie verließ ihn nur deshalb nicht, weil sie sonst nirgends hin konnte.
Corker kauerte sich zitternd hin, und Rhoda hoffte, der Grund dafür sei nicht allein die Kälte, sondern auch Angst. Er hatte lange genug seinen Willen bekommen. Zeit, ihn etwas anderes spüren zu lassen.
Das Flohshampoo reizte wie immer Rhodas Augen, die rot aufquollen, sodass sie im Restaurant aussehen würde, als hätte sie geweint. Sie spülte Corker ein letztes Mal, er schüttelte sich, nicht sehr gründlich, sie trocknete ihn ab und sah dabei ihren Vater vor sich, wie er da draußen einen Herzinfarkt erlitt, während er im Regen arbeitete, sich selbst antrieb und einen großen Baumstamm hob – wie er einfach vornüberkippte. Wie ihre Mutter ihm zu helfen versuchte, nach jemandem rief, die Stimme verloren im Sturm, keine Hilfe weit und breit, kein
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