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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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die Augen. Sie musste nachdenken, doch inihr war nur Angst. Sie könnte zum Anleger gehen. Vielleicht war dort etwas.
    Also fuhr sie zum Campingplatz. Der Pickup ihres Vaters auf dem Parkplatz und sonst nichts. Die Sonne war untergegangen, verhüllt von Regen und Wolken, kaum noch Licht. Fast dunkel, als sie zum Anleger hinunterging. Brandungswellen, wie sie gedacht hatte, weißes Aufblitzen beinahe in Kopfhöhe. Steil und kompakt, lauter als der Wind, wenn sie an Land krachten. Der Regen wie Nadeln in ihrem Gesicht, kalt und schmierig, beinahe Schnee.
    Idioten, brüllte sie über den See. Keine Möglichkeit, sie zu erreichen, selbst wenn sie ein Boot hätte. Nur wenige Meilen entfernt und abgeschnitten vom Rest der Welt.

G ary fiel auf, dass der Regen jetzt anders aufs Zelt fiel. Sanfter. Der erste Schnee, wie ein erhörtes Gebet. Noch kein Dach auf ihrer Hütte, aber der Schnee war gekommen. Bis vor Kurzem hätte er das nicht so gesehen. Er hätte ob des frühen Wechsels der Jahreszeiten getobt und gewütet, sich von der Zeit betrogen gefühlt. Aber jetzt wusste er, dass er es so wollte. Er wollte den Schnee. Er setzte sich im Schlafsack auf, zog leise den Reißverschluss auf.
    Ich bin wach, sagte Irene. Du musst nicht leise sein. Ich bin immer wach.
    Es schneit, sagte er.
    Ich weiß. Es schneit seit Stunden.
    Ich gehe mal kurz gucken. Er zog Hose, Hemd und Pullover an und stellte sich in den Eingang, um Stiefel und Regenzeug anzuziehen. Das Zelt noch immer vom Wind gebeutelt, der peitschte und ruckelte, aber kein prasselnder Regen mehr.
    Er trat in unerwartete Kälte hinaus. Noch nicht mal Oktober, doch es fühlte sich an wie Oktober. Nicht genug Kleidung unter dem Regenzeug, aber er würde sowieso nur kurz draußen sein. Er stemmte sich gegen Wind und Schnee und ging ans Ufer, wollte die Wellen sehen. Dunkel draußen, schwarz, aber die Wellen würden brechen, sich weiß zeigen.
    Das Unterholz dicht, überall totes Geäst. Erlenzweige, die nach ihm ausschlugen. Der Schnee kalt auf seinen Wangen, wenn er schmolz. Große Flocken, zart. Er hätte sie gern gesehen.
    Durch Erlen ins büschelige Unterholz am Ufer, dichtes Gras, und jetzt konnte er das Weiß der Wellen sehen, schwächer, als er sich vorgestellt hatte, und die verwehte Gischt auf den Wangen spüren.
    Nap nihtscua , verdunkelter Nachtschatten, northan sniwde , Schnee vom Norden. Genau das liebte Gary. Hrim hrusan bond , überfrorene Welt, haegl feol on eorthan , Hagel fiel auf die Erde, corna caldast , kälteste Körner. Seine Lieblingsstelle im Gedicht, weil es eine unerwartete Wendung darstellte, eine Überraschung. Nach all seinen Leiden auf stürmischer See will der Seefahrer bloß wieder hinaus. Nicht bei der Harfe sind seine Gedanken, nicht beim Empfangen des Rings, nicht beim Vergnügen an Frauen oder weltlichen Hoffnungen. Allein beim Tosen der Wogen.
    Ein tausend Jahre altes Verlangen, eine Sehnsucht nach atol ytha gewealc , dem schrecklichen Tosen der Wogen, und endlich hatte Gary es verstanden. An der Uni war er zu jung gewesen, zu konventionell, er hatte geglaubt, das Gedicht handle allein von Religion. Er hatte noch kein vertanes Leben gesehen, hatte noch nicht die schiere Sehnsucht begriffen nach dem, was letztlich eine Art Auslöschung war. Das Verlangen zu wissen, was die Welt anrichten kann, zu sehen, was man aushält, und schließlich, während es einen zerreißt, zu sehen, woraus man gemacht ist. Die Auslöschung, hinweggefegtzu werden, das barg eine gewisse Glückseligkeit. Doch ewig hat Sehnsucht, wer auf die See hinausfährt, seine Sehnsucht ist es, dem Schlimmsten ins Auge zu blicken, die zarte Hoffnung auf eine größere Woge.
    Gary zitterte vor Kälte, wollte aber den Elementen reiner entgegentreten. Er schob sich die Kapuze vom Kopf, öffnete seine Regenjacke, legte sie ins Gras zu seinen Füßen. Mit voller Wucht traf ihn der Wind, nahm ihm alle Wärme. Gary zog den Pullover aus und dann sein Hemd. Mit nackter Brust hob er dem Sturm die Arme entgegen und brüllte in Wind und Schnee wie ein Verrückter. Ein lebendiger Mann, dachte er und fragte sich, ob er irgendeine Form von Wiedergeburt erwartete, von Erlösung. Dass er überhaupt dachte, ging ihm allerdings gegen den Strich. Er wollte aller Gedanken ledig sein, wollte, dass sein Kopf aufhörte zu arbeiten. Also trat er in die Gischt, an den Strand, auf glitschige, von Schleim bedeckte Steine und ging langsam, feierlich mit erhobenen Armen, während der gepeinigte Körper

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