Die Unermesslichkeit
sie blieb stehen. Dieser große See, so flach, nur kleine Schneegestöber. Sie blickte zum fernen Ufer, beschrieb einen langsamen Kreis, versuchte, alles auf einmal zu sehen, die ganze Unermesslichkeit.
Und dann würde sie auf das nächste Ufer zulaufen, den Schutz der Bäume suchen. Die Entfernungen trügerisch, sich dehnend. Am Rande des Sees Verwerfungen und Eismonumente, ihre Gipfel schneebedeckt, Berge anderen Ausmaßes. Sie trat über einen Grat, eine Riesin, glitschiges Eis unter ihren Stiefeln und dann Fels, große Kiesel, der Strand. Schnell zwischen die Bäume, Heimat der Wintervögel: Tannenhuhn, Moorschneehuhn, Weißschwanz-Schneehuhn. Sie hatte kleine Schwärme von Birkenzeisigen in noch kälterer Witterung fressen sehen.
Kein Pfad hier. Sie trat über totes Holz, schob sich durch karge Flecken dick gewachsener Erlen, Nahrungsplatz für Schneehühner, zu größeren weißen Birkenstämmen, der immergrünen Sitkafichte, hoch und schlank mit seltsam abgewinkelten Ästen.
Irene suchte nach Lebenszeichen, sah und hörte nichts. Ihre Schritte knackten. Der Wald verbarg nichts, zum Himmel hin offen, zu kahl, zu verkümmert, um Schutz zu bieten. Sumpf und Senke, Platten und Mulden, erneut durch dichteres Gesträuch direkt in dieTeufelskeule, stachliger Knauf, der in Schulterhöhe aus dem Wald ragte. Sie schrie auf, die linke Hand gespickt mit Stacheln. Knorriger Stab mit seinem Knubbelkopf, voller Stacheln. Und jetzt sah sie, dass es hier noch viel mehr gab. Ein Dickicht, also musste sie rückwärts hinaus, um den Sumpf herum und in höhere Gefilde.
Sie fand ein Erlengehölz, bequemer, mehr Raum zwischen den Stämmen, kam gut voran, der Schnee nicht zu tief. Endlich eine Steigung, die Flanke eines Bergs, den Bogen schleifte sie hinter sich her. Die kalte Luft schwer in ihrer Lunge. Als sie über einen kleinen Hügel kam, konnte sie den Berg oben sehen, weiß über der Baumgrenze, krumpelig und alt. Sie würde ihn erklimmen, bis ganz nach oben. Viele Meilen, und das hatte sie im Winter noch nie gemacht, aber jetzt schien es nicht schwer. Es schien beinahe so, als würde sie hinaufgetragen, als schwebte sie über dem Boden. Nur der Bogen hielt sie zurück, beschwerte sie, also ließ sie ihn fallen, sah ihm nicht nach, blickte nicht zurück, kletterte schneller, eine neue Dringlichkeit, zog mit den Händen an kleinen Zweigen.
Irene war benommen, schwindlig, das Klettern eine Art Trance, mit Blick auf den Schnee vor ihr, stets makellos, kleine Mulden um jeden Baumstamm, alles klar umrissen, die Welt gezeichnet, weicher als zuvor.
Danach nichts mehr. Irene verlor die Sicht. Konnte sich selbst nicht mehr sehen, konnte den Winter nicht mehr sehen. Sie war wieder im Zelt, allein, und dachte, die Welt sei so, wie sie war, nicht möglich. Zu flach, zu leer.
Irene rollte sich in ihrem Schlafsack auf die Seite, wartete auf den Schlaf, der nie kam. Die Nacht eine Weite. Stunden der Konzentration auf den eigenen Atem, jeden Hauch zählend im Bemühen, wegzudämmern. Dann auf den Bauch, die Knie wund von der Seitenlage.
Am frühen Morgen Wind. Draußen noch immer dunkel. Sie lag auf dem Rücken, ohne weiter Schlaf zu suchen. Ließ einfach den Schmerz durch ihren Kopf pulsen, schwebte darin herum, spürte, wie ihr Tränen aus den Augen rannen, konnte aber das entsprechende Gefühl nicht finden. Ein allgemeines Gefühl von Trauer, von Verzweiflung, etwas Leeres, aber nicht das, was man ein Gefühl nennen würde. Zu müde dafür. Sie wartete auf Licht, darauf, dass der Tag begann, damit sie wenigstens aufstehen konnte und etwas geschah. Etwas, um die Zeit zu vertreiben.
Sie machte die Augen wieder zu, und als Irene sie schlaflose Stunden später wieder öffnete, war das blaue Nylon des Zelts eben gerade sichtbar, also brach der Tag an. Noch eine halbe Stunde warten, und es wäre hell genug zum Aufstehen und Anziehen.
Kalt und bedeckt, als Irene aus dem Zelt trat. Sie ging zur Hütte, blickte durch das offene Fensterloch, fröstelte im Wind. Sie musste an die Arbeit, um warm zu werden.
Also ging sie zu Garys Zelt. Aufstehen, rief sie. Gary. Zeit für die Arbeit. Mir ist kalt. Ich muss arbeiten.
Okay, antwortete er schließlich. Sie neidete ihm seinen Schlaf. An einem neuen Tag aufzuwachen, der vomvorherigen getrennt war. Für Irene wurde das ganze Leben zu einem einzigen langen Tag. Sie fragte sich, wie lange sie überleben würde. Wenn man nie schläft, stirbt man dann irgendwann? Oder zählt das stundenlange
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