Die Unermesslichkeit
mir?
Dir würde nicht gefallen, was ich dir zu sagen habe.
Schön, sagte er. Wahrscheinlich hast du recht. Ich habe mir genug von deinem Mist angehört.
Gary ging ins Versorgungszelt, um Platz zu schaffen. Kniete sich in die Öffnung und stapelte alles an einer Seite aufeinander. Dann ging er ins andere Zelt, um seinen Schlafsack und sein Kissen zu holen. Ich schlafe drüben, sagte er.
Irene wie ein Mönch über der Suppe. Als bestünde die Mahlzeit aus Zeichen.
Gary zog die nassen Stiefel, Hose und Socken aus und trockene Kleidung an. Spürte, wie prickelnd Leben in seine Zehen kam. Ich esse meine Suppe jetzt, sagte er. Sie ist bestimmt heiß genug.
Also füllte Irene die Hälfte des Topfes in eine große Plastikschüssel, Gary schnappte sich einen Löffel und wanderte ans Ufer. Fand einen geeigneten Felsen und setzte sich mit Blick auf die Dunkelheit, die sich aufs Wasser legte. Kein Schnee mehr. In der Ferne, am anderen Ufer, keine klare Unterscheidung mehr zwischenWasser und Himmel. Das Boot schaukelte auf den Wellen, schrappte gelegentlich über Felsen.
Er wollte hier draußen leben. Er wollte einen Winter hier verbringen, wollte diese Erfahrung machen. Allerdings erkannte er jetzt, dass es bei einem Winter bleiben würde. Im Frühjahr würde er diesen Ort verlassen, Irene verlassen. Er wusste nicht, wo er hingehen und was er tun würde, aber er wusste, dass es Zeit war, zu gehen. Dieses Leben war zu Ende.
I rene lag allein in ihrem Zelt. Eine ruhigere Nacht als sonst, kein Wind. Und sie versuchte sich vorzustellen, wie es im Winter sein würde. Was eigentlich nicht so schwierig war nach so vielen Jahren am Rande dieses Sees. Wenn sie ihn betrat, würde sie Verwerfungslinien im Schnee vorfinden. Eine dünne Schicht, feine Grate, wo das Eis gebrochen war. Keine weiteren Fußspuren, überhaupt keine Spuren. Irene die einzige Gestalt in weißer Weite.
Früher Winter, minus zwanzig Grad. Die Berge wären weiß, der See und der Gletscher. Nur der Himmel von einer neuen Farbe, rare Wintersonne, rares Mittwinterblau. Eine Sonne, die seitwärts über die Gipfel zöge, außerstande, höher zu steigen.
Irene hätte ihren Bogen dabei, ihre Schritte das einzige Geräusch. Die Welt prähistorisch. Wind, der den Schnee wie Sand aufwirbelte, kleine Dünen und Höhlen. Das Wasser dicht darunter.
Irene stellte sich vor, sie wäre aus irgendeinem Grund nicht angemessen gekleidet für diese Kälte. Trüge, was sie in der Hütte, inzwischen fertiggestellt, getragen hatte: einen blauen Pullover, dünne Daunenweste, Wollhose und Stiefel, eine Strickmütze, weiß und grau. Keine Handschuhe. Die Hand, die den Bogen hielt, war kalt. Sie ging auf den Gletscher zu, auf die Berge, wegvon der Insel. Ging langsam. Blieb stehen und sah sich um.
Ohne ihre Schritte kein Laut. Kein Wind, keine Wasserbewegung, kein Vogel, kein anderer Mensch. Diese helle Welt. Ihr Herz, ihr Atem, ihr Blut in den Schläfen, das waren die einzigen Laute, die sie hören konnte. Könnte sie die zum Verstummen bringen, könnte sie die Welt hören.
Das Wasser unter ihr bewegte sich, das musste doch ein Geräusch machen. Eine dunkle Strömung unter Eis, die keine Oberfläche durchbrach, nichts kräuselte, aber selbst das musste ein Geräusch machen. Tiefes Wasser, Lagen und Strömungen, und wenn sich eine Lage über die nächste schob, musste es zu hören sein, ein Reiben von Wasser gegen Wasser. Und mit der Zeit die Veränderungen in diesen Strömungen, die Verlagerungen, der See von einem Moment zum anderen nicht derselbe. All das musste doch irgendwie festgehalten sein.
Irene stellte sich vor, wie sie über die dünne Kruste weiterging, Bogen in der linken Hand, die andere Hand warm in der Tasche. Weiter über seichte Schneedünen, innehaltend an einer Stelle mit großen Flocken. Groß wie Fingernägel, einzelne Schneeflocken mit sichtbarem Gezweig, gespreizt, hauchdünn. Sie sahen aus wie Schmuck, raffiniert, zu groß und separat, um echt zu sein. Sie hockte sich hin, um sie eingehender zu betrachten, fasste eine Flocke an, wischte dann mit der Hand über die Oberfläche, die das Schwarz des Sees zeigte, die Farbe des Eises über der Tiefe. Ein Vakuum des Lichts. Und keine Möglichkeit, hineinzuspähen, dieOberfläche klar, aber so dunkel, dass sie im Grunde opak war.
Die Kälte würde eindringen. Nicht richtig angezogen, nicht gewappnet. Beine und Rücken kalt. Bald würde sie frösteln. Die Sonne so hell und ohne jede Wärme.
Gary, sagte sie. Und
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