Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
riet mir, die Stelle unbedingt anzunehmen. «Das ist Europa», sagte er. «Du bist jung. Das ist eine großartige Erfahrung für dich. Du musst das einfach machen.»
Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit kam, fragte ich einen Managing Director im Handelssaal, ob er zehn Minuten Zeit für mich habe. Er war beschäftigt, aber als er sah, dass es offensichtlich um etwas Wichtiges ging, sagte er ja. Ich wollte mit ihm reden, weil er auf der Führungsebene unter meinen New Yorker Chefs – Conti und Beth – angesiedelt war und Daffey gut kannte. Er kannte alle, die mit der Sache zu tun hatten, und ich vertraute ihm. Er hatte kein persönliches Interesse in dieser Angelegenheit. Er war der ideale Ansprechpartner für ein paar analytische Tipps ohne Hintergedanken. Wir gingen in einen verglasten Konferenzraum. Ich schloss die Tür und überprüfte dann die Freisprechanlage. Es ist eine Gewohnheit bei Goldman, dass man immer, wenn man für eine private Unterredung in einen dieser Räume geht, ein-, zweimal den Ausschalter drückt, sicherstellt, dass man den Wählton hört, um dann ein weiteres Mal auszuschalten. Dreifach-Check. Wenn eine Videokonferenzanlage im Raum ist, überprüft man, dass sie ausgeschaltet ist.
Er fragte mich, was los sei. «Ich brauche Ihren Rat», sagte ich. Ich erzählte ihm von dem Angebot in London. «Ist es eine gute Idee zu wechseln?», fragte ich. «Oder ist es keine gute Idee? Ich hab die Chefs nicht darum gebeten, sie sind von sich aus auf mich zugekommen. Alle meine Freunde sind hier in New York. Ich will nicht, dass sie mich reinlegen. Ich möchte angemessen dafür entlohnt werden, wenn ich hier meine Zelte abbreche. Glauben Sie, dass man sich mir gegenüber korrekt verhält?»
Er sah mich an. «Okay, das hier ist streng vertraulich, verstanden?», sagte er.
Ich nickte.
«Greg», sagte er, «ich sage Ihnen das als Freund. Versuchen Sie sich um ein anderes Stellenangebot zu bemühen, damit Sie die da oben ein bisschen unter Druck setzen können und sicherstellen, dass man Sie Ihrem Marktwert entsprechend vergütet. Denn das ist echt ein großer Schritt und ein ziemliches Opfer. Sie gehen in ein anderes Land und müssen sich dort ein neues Leben aufbauen.»
Ich hörte sehr aufmerksam zu. Was er sagte, leuchtete mir ein. Seit ich für Goldman Sachs arbeitete, hatte ich eine Reihe von Angeboten von anderen Firmen bekommen. Das lief sehr unterschiedlich ab: Manchmal rief einfach eine andere Bank an (einmal auch JPMorgan Chase). Es war auch vorgekommen, dass mir Kunden eine Stelle anboten. Der Trading-Chef einer meiner Kunden, der ein bisschen die Nase voll hatte von Goldman Sachs und den Chef von Morgan Stanley kannte, hatte versucht, einen Wechsel für mich einzufädeln. Ab und an meldeten sich Headhunter bei mir. Manchmal riefen sie über die Telefonzentrale an und stellten sich als «ein Freund» oder «ein Cousin» vor, manchmal nannten sie einen erfundenen Namen wie «John Spencer». Ich fragte mich: «Wer ist John Spencer?» Dann nahm ich das Gespräch an, und wenn der Headhunter sagte: «Können Sie für den Anruf die Mithörsperre einschalten?», dann wusste ich sofort, was Sache ist.
Sobald ich die Sperre gedrückt hatte, hieß es dann: «Hi, hier spricht Bob Simons. Ich bin Headhunter im Auftrag der Credit Suisse. Wir suchen jemanden für den Posten des Soundso. Ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen.» Dann fügte er meistens noch hinzu: «Würden Sie mir Ihr Handynummer geben? Ich rufe Sie abends oder am Wochenende an.»
Bislang war ich nie darauf eingegangen. Während meiner gesamten Laufbahn habe ich mich nie mit einem Headhunter getroffen oder ein Bewerbungsgespräch mit einem von ihnen geführt. Im Rückblick denke ich, dass ich Goldman Sachs vielleicht ein bisschen zu sehr die Treue gehalten habe. Aber ich habe Loyalität sehr ernst genommen und wollte nicht, dass jemand etwas anderes von mir denkt.
Andererseits hatte sich fast jeder, den ich bei Goldman kannte, hin und wieder irgendwo anders beworben. Der Managing Director, der mir diesen Tipp gab, war ein vernünftiger Mann, und er sprach nur klar und deutlich aus, was Sache war: Die Firma hat Loyalität nie in irgendeiner Weise belohnt. Man konnte jederzeit gefeuert werden. Es ging nur noch um die Zahlen, die man brachte. Es war egal, ob man zehn Jahre, fünfzehn Jahre oder fünfundzwanzig Jahre dabei war – sicherstellen, dass man angemessen entlohnt wurde, konnte man nur, indem man seinen Marktwert in
Weitere Kostenlose Bücher