Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Damoklesschwert in Form eines Rotstifts. Emerging Markets Sales drohte die Abwicklung. Ich wusste, dass ich eine Überlebensstrategie brauchte – eine andere Aufgabe –, wenn ich in der Firma bleiben wollte. Und Rudy sah das für sich offenbar ganz ähnlich.
Als der Sommer zu Ende ging, wurde er ungewöhnlich geheimniskrämerisch, verließ ständig seinen Schreibtisch, um an «vertraulichen internen» Sitzungen teilzunehmen, und sprach flüsternd ins Telefon. Obwohl wir im selben Boot saßen und auch noch direkt nebeneinander, verhielt er sich gar nicht mehr sehr partnerschaftlich. Ich ahnte schon, was kommen würde – und meine Ahnung bestätigte sich, als Rudy eines Tages zu mir sagte: «Springbock, ich wechsle am Montag in den neunundvierzigsten Stock, zu US Equity Sales. Das muss Ihnen keine Angst machen, Sie packen das schon. Ich helfe Ihnen, wo ich kann.»
Ein anderer Kollege aus dem Handelssaal nahm mich beiseite und äußerte ungefragt einen Rat, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. «Veränderungen machen Angst», sagte er. «Aber oft bringen sie auch Gutes. Wandel ermöglicht neue, wichtige Erfahrungen. Kopf hoch.»
Rückblickend war mir klar, was Rudy abgezogen hatte. Er hatte seine Kontakte bei US Equity Sales angezapft, weil er seine Versetzung im Auge hatte. Im Vergleich zu Emerging Markets Sales war der Bereich, in den er wechseln wollte, stabiler und weniger schwankungsanfällig, denn es ging hauptsächlich um den Verkauf höher kapitalisierter, liquiderer US-Aktien an US-Investoren. Mit Dutzenden von Mitarbeitern war aber auch die Konkurrenz größer. Rudy war nur noch ein kleiner Fisch in einem großen Teich.
Aber ihm war die Sicherheit wichtig. Die ganze Zeit über hatte er sich aktiv um eine neue Stelle bemüht, ohne mir ein Wort zu sagen. Wenn ich ehrlich war, war ich enttäuscht, dass er nicht versucht hatte, mit US Equity Sales eine «Paketlösung» auszuhandeln, um uns beide herauszuholen. Es war schließlich nicht so ungewöhnlich, dass ein VP mit dem «Analysten seines Vertrauens» an seiner Seite das Team wechselte. Vielleicht hatte ich zu viel erwartet. Vielleicht hatte Rudy es ja versucht. Ich habe keinen Beweis für das Gegenteil. Doch angesichts der vielen Entlassungen war der Druck so extrem hoch, dass er verständlicherweise vor allem seine eigene Haut retten wollte.
Im September 2002 zog Rudy in den neunundvierzigsten Stock um. Die für internationale Aktien zuständige Gruppe wurde verkleinert. Jahrelang hatte sie den ganzen achtundvierzigsten Stock belegt. Jetzt waren wir einfach nicht mehr genug Leute, um so viel Platz zu beanspruchen. Schon bald wurden wir alle in den neunundvierzigsten Stock umgesiedelt, in dem Goldman den gesamten Aktienhandel zusammenlegte. In der Abteilung New Markets Sales war ich der letzte Mohikaner, aber ich hielt die Stellung, rief Kunden mit Marktideen und Informationen an und vereinbarte Termine. Doch der Faden, an dem das Damoklesschwert hing, wurde zusehends dünner.
Ich musste ständig daran denken, dass meine Uhr tickte. Ich hatte einen Zweijahresvertrag. Im Juli war das erste Jahr um gewesen, und ich wusste, dass nur die Hälfte der Analysten ins dritte Jahr übernommen wurde – und bei dieser Marktlage vielleicht noch weniger.
Dennoch war ich seltsamerweise optimistisch, dass es mir irgendwie gelingen würde, vor Ablauf der Frist eine neue Stelle in der Firma zu finden. Bei Goldman finden jedes Jahr 360-Grad-Beurteilungen statt. Zu diesem Zweck benennt jeder zehn Kollegen (ranghöhere und rangniedrigere), die ihm dann Noten von eins bis fünf geben in Kategorien wie Fachkompetenz, Marktkompetenz, Teamgeist, Personalpolitik, Compliance etc. Die Personalabteilung wertet die Ergebnisse aus und teilt jedem Einzelnen die Werte mit, sein Ranking im Quartil sowie qualitative Kommentare und Feedback. Meine Werte und das Feedback konnten sich sehen lassen. Ich war unter den besten fünfundzwanzig Prozent – also im obersten Quartil – der Analysten.
Ich rechnete mir daher objektive Chancen auf eine Weiterbeschäftigung aus. Es würde allerdings hart werden. Ich fühlte mich so ähnlich wie im zweiten Jahr in Stanford, als meine Aussichten auf ein Sommerpraktikum in einem Finanzunternehmen verschwindend gering waren. Doch ich hatte gewusst, wenn ich nur an genügend Türen klopfte, würde mir schon jemand eine Chance geben.
Ich tat mich also um, landete aber oft in Sackgassen. Überall herrschte Weltuntergangsstimmung, sodass
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