Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Sommerpraktikum hatte ich an der Business School noch einen weiteren Kurs zum gleichen Thema belegt. Doch das war alles graue Theorie gewesen. Seit ich bei Goldman Sachs arbeitete, hatte ich nichts mit Derivaten zu tun gehabt. Ich hatte theoretisches Wissen, ging aber davon aus, dass das mit der Praxis des Derivatehandels wenig zu tun hatte, und genau das sagte ich Corey.
Er lächelte verhalten. Er war untersetzt, eher klein, strahlte aber Autorität aus. Sein Haar war ebenso kurz geschnitten wie sein Kinnbart. Seine unter dem ordentlich gestärkten Hemdkragen perfekt gebundene Krawatte sah nach Hermès aus. «Wissen Sie», begann er, «als ich in dieser Abteilung anfing, hatte ich ebenfalls kaum Ahnung von Derivaten. Wenn Sie Köpfchen haben, können Sie alles Nötige bei uns lernen.»
Das Gespräch war kurz gewesen, aber verheißungsvoll. Am folgenden Morgen erhielt ich eine E-Mail von der Frau aus der Personalabteilung: «Drei haben es in die nächste Runde geschafft – Sie sind dabei. Corey möchte Sie noch einmal sprechen und Sie ein paar Mitgliedern seines Teams vorstellen.»
Noch am selben Tag suchte ich Coreys Abteilung auf. Er hatte für mich Gespräche mit sechs verschiedenen Derivateverkäufern vereinbart – hauptsächlich VPs und Associates. Die ganz wichtigen Leute fehlten noch. Kaum zwei Jahre nach dem «Supertag» in San Francisco vor meinem Sommerpraktikum erlebte ich jetzt einen weiteren solchen Gesprächsmarathon. Glücklicherweise schlug ich mich an diesem Tag nicht schlecht. Ich gab meine Defizite offen zu, machte aber deutlich, dass ich mich sehr für die Produkte interessierte und lernwillig war. Die Derivatehändler gefielen mir. Keiner fühlte mir zu intensiv auf den Zahn. Es ging ihnen mehr um mich als Mensch, und wir passten gut zusammen.
Danach mailte mir die Personalsachbearbeiterin: «Sie sind wieder eine Runde weiter. Jetzt gibt es nur noch eine letzte Hürde: Coreys Chef.»
Kapitel 4
Wie etwas zu Ende geht
Coreys Chef war Michael Daffey.
Daffey war zwar erst Mitte dreißig, aber ein rasch aufgehender Stern bei Goldman Sachs. Er war Australier und als Quereinsteiger aus einer anderen Bank zu uns gestoßen, die Ende der neunziger Jahre für Goldman in Asien tätig war. Als ich im Sommer 2000 mein Praktikum ableistete, war er als Vice President nach New York versetzt worden. Ende des Jahres hatte er es zum Managing Director gebracht. 2002 wurde er Partner – ein nahezu beispielloser Karrieresprung in nur zwei Jahren.
Daffey war knapp eins neunzig groß, hatte schütteres Haar, einen athletischen Körperbau und ein freundliches, offenes Gesicht. Er war ein Sitzzwerg, weil er sich in seinem Schreibtischstuhl extrem zusammensinken ließ und dann unerwartet groß war, wenn er sich erhob. Mehr Strahlkraft als er hatte keiner im Handelssaal. Alle mochten und respektierten ihn.
Wie sehr, illustriert die folgende Daffey-Anekdote:
Einmal betrat Gary Cohn höchstpersönlich den Handelssaal – der spätere GS-President war damals Global Co-Head der Abteilung Securities. Daffey saß gerade an seinem Terminal und war in ein Gespräch mit einem genialen Strategen namens Venky vertieft, einem fünfundzwanzigjährigen Inder und Absolventen des legendären Indian Institute of Technology (IIT). Gesprächsthema war eine von Venky erstellte (und von Daffey in Auftrag gegebene) Tabelle. Ein wahres Wunderwerk: Sie bildete – in Echtzeit – jede mögliche Statistik jedes damaligen Teilnehmers am Masters-Golfturnier ab. Daffey, der mit Vorliebe aufs Masters wettete, war im Golf-Nirwana. Er blickte auf, sah Gary Cohn und rief: «Gary, kommen Sie mal rüber!»
Im Raum wurde es totenstill. Es war einer dieser Momente, wenn in einem Western der Revolverheld den Saloon betritt. Nur wenige kannten Gary Cohn gut genug oder hätten sich getraut, ihn auf diese Weise herbeizuzitieren. Doch Cohn kam.
«Gary, darf ich Ihnen Venky vorstellen. Venky, das ist Gary», sagte Daffey. Der hünenhafte Gary sah auf den kleinen Strategen runter. Dann gab er Venky die Hand. «Venky ist schlauer als Sie und ich zusammen», eröffnete ihm Daffey.
Venky strahlte. Es war der Ritterschlag für ihn. Dann führte Venky Gary vor, wie der Algorithmus seiner Tabelle funktionierte. Und siehe da: Auch Gary war beeindruckt. «Schicken Sie mir die Tabelle», meinte er. (Ein paar Jahre später machte Venky von sich reden als Kopf hinter der Entwicklung des heutigen Volatilitätsindex der Chicago Board Options Exchange. Der Index
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