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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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mit dem hocherhobenen Stuhl durch das Zimmer schritt: es kam ihr grotesk vor und erfüllte sie mit einer seltsamen Traurigkeit.
    Franz stellte den Stuhl ab und setzte sich darauf, das Gesicht Sabina zugewandt: »Nicht, daß ich unzufrieden wäre, so stark zu sein«, sagte er, »aber wozu brauche ich in Genf solche Muskeln? Ich trage sie wie einen Schmuck. Wie ein Pfau seine Federn. Ich habe mich nie im Leben mit jemandem gerauft.«
    Sabina spann ihre melancholischen Gedanken weiter: Und wenn sie nun einen Mann hätte, der ihr Befehle erteilte? Der sie dominieren wollte? Wie lange könnte sie ihn ertragen?
    Keine fünf Minuten! Daraus geht hervor, daß es keinen Mann gibt, der zu ihr paßt. Weder stark noch schwach.
    Sie sagte: »Und warum setzt du deine Stärke nicht manchmal gegen mich ein?«
    »Weil Liebe bedeutet, auf Stärke zu verzichten«, sagte Franz leise.
    Sabina wurden zwei Dinge klar: erstens, daß dieser Satz wahr und schön ist. Zweitens, daß gerade dieser Satz Franz in ihrem erotischen Leben degradierte.
    IN DER WAHRHEIT LEBEN
    Das ist eine Formulierung, die Kafka in seinem Tagebuch oder in einem Brief verwendet hat. Franz kann sich nicht mehr genau erinnern, wo. Diese Formulierung hat ihn gefangengenommen. Was heißt das, »in der Wahrheit leben«? Eine negative Definition ist einfach: es heißt, nicht zu lügen, sich nicht zu verstecken, nichts zu verheimlichen. Seit Franz Sabina kennt, lebt er in der Lüge. Er erzählt seiner Frau von einem Kongreß in Amsterdam, der nie stattgefunden, von Vorlesungen in Madrid, die er nie gehalten hat, und er hat Angst, mit Sabina in den Straßen von Genf spazierenzugehen. Es amüsiert ihn, zu lügen und sich zu verstecken, denn er hat es sonst nie getan. Er ist dabei angenehm aufgeregt, wie ein Klassenprimus, der beschließt, endlich einmal die Schule zu schwänzen.
    Für Sabina ist »in der Wahrheit leben«, weder sich selbst noch andere zu belügen, nur unter der Voraussetzung möglich, daß man ohne Publikum lebt. Von dem Moment an, wo jemand unserem Tun zuschaut, passen wir uns wohl oder übel den Augen an, die uns beobachten, und alles, was wir tun, wird unwahr. Ein Publikum zu haben, an ein Publikum zu denken, heißt, in der Lüge zu leben. Sabina verachtet die Literatur, in der ein Autor alle Intimitäten über sich und seine Freunde verrät. Wer seine Intimität verliert, der hat alles verloren, denkt Sabina. Und wer freiwillig darauf verzichtet, der ist ein Monstrum. Darum leidet Sabina nicht im geringsten darunter, daß sie ihre Liebe verheimlichen muß.
    Im Gegenteil, nur so kann sie »in der Wahrheit leben«.
    Franz dagegen ist überzeugt, daß in der Trennung des Lebens in eine private und eine öffentliche Sphäre die Quelle aller Lügen liegt: Man ist ein anderer im Privatleben als in der Öffentlichkeit. »In der Wahrheit leben« bedeutet für ihn, die Barriere zwischen Privat und Öffentlich niederzureißen. Er zitiert gern den Satz von Andre Breton, der besagt, daß er gern »in einem Glashaus« gelebt hätte, »wo es keine Geheimnisse gibt und das allen Blicken offensteht«.
    Als er hörte, wie seine Frau zu Sabina sagte, »Dieser  Schmuck ist scheußlich!«, da wurde ihm klar, daß er nicht länger in der Lüge leben konnte. Denn in jenem Moment hätte er für Sabina Partei ergreifen müssen. Er hatte es unterlassen, weil er fürchtete, ihre heimliche Liebe zu verraten.
    Am Tag nach diesem Cocktail wollte er mit Sabina für zwei Tage nach Rom fahren. Im Geiste hörte er ständig den Satz »Dieser Schmuck ist scheußlich!«, und er sah seine Frau plötzlich mit anderen Augen als das ganze Leben zuvor. Ihre unbeirrbare, lautstarke, temperamentvolle Aggressivität befreite ihn von der Bürde der Güte, die er dreiundzwanzig Ehejahre lang geduldig getragen hatte. Er erinnerte sich an den riesigen Innenraum der Kathedrale von Amsterdam und spürte wieder diese eigenartige, unbegreifliche Begeisterung, die diese Leere in ihm ausgelöst hatte.
    Er war beim Kofferpacken, als Marie-Claude das Zimmer betrat; sie sprach über die Gäste des letzten Abends, billigte einige der aufgeschnappten Ansichten und verurteilte andere in spöttischem Ton.
    Franz sah sie lange an und sagte: »Es gibt keine Konferenz in Rom.«
    Sie begriff nicht: »Warum fährst du dann hin?«
    Er antwortete: »Ich habe seit einem Drei Vierteljahr eine Geliebte. Ich möchte nicht in Genf mit ihr Zusammensein.
    Deshalb verreise ich so oft. Ich finde, du solltest darüber im Bilde

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