Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
herumliefen.
Franz sagte: »Diese Leere fasziniert mich. Man häuft Altäre, Statuen, Bilder, Stühle, Sessel, Teppiche und Bücher an, und dann kommt der Moment freudiger Erleichterung, in dem man all das wegfegt wie Krümel vom Tisch. Kannst du dir den Herkulesbesen vorstellen, der diese Kathedrale leergefegt hat?«
Sabina wies auf eine Holzloge: »Die Armen mußten stehen und die Reichen hatten Logen. Aber es gab etwas, das den Bankier mit dem armen Schlucker verband: der Haß auf die Schönheit.«
»Und was ist Schönheit?« fragte Franz, vor dessen Augen eine Vernissage aufstieg, die er vor kurzem an der Seite seiner Frau hatte über sich ergehen lassen müssen. Die unendliche Eitelkeit von Reden und Wörtern, die Eitelkeit der Kultur, die Eitelkeit der Kunst.
Als sie noch studierte, mußte sie bei einer JugendBaubrigade arbeiten und hatte das Gift der fröhlichen Marschmusik, die unaufhörlich aus den Lautsprechern tönte, in der Seele. An einem Sonntag hatte sie sich aufs Motorrad gesetzt und war weit hinaus in die Wälder gefahren. In einem unbekannten Dörfchen inmitten der Hügel machte sie halt. Sie lehnte das Motorrad an die Kirchenmauer und trat in die Kirche. Es wurde gerade die Messe gelesen. Die Religion wurde damals vom kommunistischen Regime verfolgt, und die meisten Leute machten einen großen Bogen um die Kirche. In den Bänken saßen nur alte Männer und alte Frauen; sie fürchteten das Regime nicht. Sie fürchteten nur den Tod.
Der Priester sprach mit singender Stimme einen Satz vor, und die Gemeinde wiederholte ihn im Chor. Es war eine Litanei. Unaufhörlich wiederholten sich dieselben Wörter, wie wenn ein Pilger den Blick nicht von der Landschaft losreißen, wie wenn ein Mensch sich nicht vom Leben trennen kann. Sie saß hinten auf einer Bank, hielt momentelang die Augen geschlossen, um der Musik zu lauschen, und öffnete sie dann wieder: sie sah über sich das blau bemalte Gewölbe mit den großen goldenen Sternen und war wie verzaubert.
Was sie in dieser Kirche unverhofft gefunden hatte, war nicht Gott, sondern die Schönheit. Sie wußte sehr wohl, daß diese Kirche und diese Litanei nicht an sich schön waren, sondern durch den Vergleich mit der Baubrigade, wo sie ihre Tage im Lärm der Lieder verbringen mußte. Die Messe war schön, weil sie sich ihr unverhofft und heimlich wie eine verratene Welt offenbarte.
Seit der Zeit weiß sie, daß Schönheit eine verratene Welt ist. Man kann nur auf sie stoßen, wenn ihre Verfolger sie aus Versehen irgendwo vergessen haben. Die Schönheit verbirgt sich hinter den Kulissen des Umzuges zum Ersten Mai. Um sie zu finden, muß man die Kulisse zerreißen.
»Das ist das erste Mal, daß mich eine Kirche fasziniert«, sagte Franz.
Weder der Protestantismus noch die Askese hatten diese Begeisterung in ihm ausgelöst. Es war etwas anderes, etwas sehr Persönliches, das er nicht wagte, vor Sabina auszusprechen. Er glaubte, eine Stimme zu vernehmen, die ihn ermahnte, den Herkulesbesen zu ergreifen, um MarieClaudes Vernissagen, Marie-Annes Sänger, die Kongresse und Symposien aus seinem Leben zu fegen, die eitlen Reden und die eitlen Wörter. Der große, leere Raum der Amsterdamer Kathedrale offenbarte sich ihm als Bild seiner eigenen Befreiung.
STÄRKE
Im Bett eines der vielen Hotels, in denen sie sich liebten, spielte Sabina mit Franz' Armen und sagte: »Unglaublich, was du für Muskeln hast.«
Franz freute sich über dieses Lob. Er stieg aus dem Bett, faßte einen schweren Eichenstuhl unten am Bein und stemmte ihn langsam in die Höhe.
»Du brauchst dich vor nichts zu fürchten«, sagte er, »ich kann dich in allen Situationen beschützen. Ich habe früher sogar Judo wettkämpfe bestritten.«
Es gelang ihm tatsächlich, den Arm mit dem schweren Stuhl über dem Kopf auszustrecken, und Sabina sagte: »Es ist gut zu wissen, daß du so stark bist.«
Für sich fügte sie jedoch hinzu: Franz ist stark, aber seine Stärke richtet sich nur nach außen. Den Menschen gegenüber, mit denen er lebt und die er gern hat, ist er schwach.
Seine Schwäche heißt Güte. Franz würde Sabina nie etwas vorschreiben. Er würde ihr nie wie einst Tomas befehlen, den großen Spiegel auf den Boden zu legen und nackt darauf hin- und herzugehen. Dazu fehlte ihm nicht etwa die Sinnlichkeit, sondern er besaß nicht die Kraft zu befehlen. Es gibt jedoch Dinge, die nur durch Gewalt zu erreichen sind. Körperliche Liebe ist undenkbar ohne Gewalt.
Sabina sah zu, wie Franz
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