Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
anschwemmte, sie waren rot und gelb und blau Sie sah sich um, als wollte sie jemanden fragen, was das zu bedeuten habe. Warum schwammen die Bänke der Prager Parkanlagen fort? Doch alle Leute gingen gleichgültig an ihr vorbei, es interessierte sie nicht, daß ein Fluß schon jahrhundertelang durch ihre vergängliche Stadt floß.
Sie blickte wieder auf das Wasser. Sie war unendlich traurig, weil sie begriff, daß das, was sie sah, ein Abschied war.
Fast alle Bänke waren aus ihrem Blickfeld entschwunden, es tauchten nur noch einige Nachzügler auf, eine gelbe Bank und noch eine, eine blaue, die letzte.
FÜNFTER TEIL DAS LEICHTE UND DAS SCHWERE
Als Teresa unverhofft zu Tomas nach Prag gekommen war, liebte er sie, wie ich es im ersten Teil beschrieben habe, noch am selben Tag, in derselben Stunde, aber gleich anschließend bekam sie Fieber. Sie lag auf seinem Bett, er stand über sie gebeugt und hatte das unabweisbare Gefühl, sie sei ein Kind, das man in ein Körbchen gelegt und auf dem Wasser ausgesetzt hatte, um es ihm zu schicken.
Seitdem hatte er eine Vorliebe für das Bild des ausgesetzten Kindes und dachte oft an die alten Mythen, in denen es vorkam. Das war vermutlich auch der heimliche Grund, weshalb er eines Tages die Übersetzung des Ödipus von Sophokles zur Hand nahm.
Die Geschichte von Ödipus ist bekannt: Ein Hirte fand den ausgesetzten Säugling und brachte ihn seinem König Polybos, der ihn aufzog. Als junger Mann begegnete Ödipus auf einer Reise durchs Gebirge einem Wagen, in dem ein unbekannter Edelmann saß. Es entstand ein Streit, in dessen Verlauf Ödipus den Edelmann tötete. Später heiratete er die Königin Iokaste und wurde Herrscher über Theben. Er ahnte nicht, daß der Mann, den er einst in den Bergen getötet hatte, sein Vater war, und die Frau, mit der er schlief, seine Mutter.
Das Schicksal verschwor sich gegen seine Untertanen und suchte sie mit Krankheiten heim. Als Ödipus begriff, daß er selbst an ihren Qualen schuld war, stach er sich mit einer Nadel die Augen aus und verließ Theben als Blinder.
Wer glaubt, die kommunistischen Regime in Mitteleuropa seien ausschließlich das Werk von Verbrechern, dem entgeht eine grundlegende Wahrheit: die Verbrecherregime wurden nicht von Verbrechern, sondern von Enthusiasten geschaffen, die überzeugt waren, den einzigen Weg zum Paradies gefunden zu haben. Diesen verteidigten sie vehement und brachten dafür viele Menschen um. Später stellte sich dann heraus, daß es kein Paradies gab und die Enthusiasten folglich Mörder waren.
Zu diesem Zeitpunkt begannen alle, die Kommunisten anzuschreien: Ihr seid verantwortlich für das Unglück des Landes (es verarmte und verlotterte), für den Verlust seiner Unabhängigkeit (es geriet in die Abhängigkeit von Rußland), für die Justizmorde!
Die Angeklagten antworteten: Wir haben es nicht gewußt!
Wir sind irregeführt worden! Wir haben geglaubt! Wir sind im Grunde unseres Herzens unschuldig!
Der Streit beschränkte sich also auf die Frage: Haben sie es wirklich nicht gewußt? Oder tun sie bloß so, als hätten sie es nicht gewußt?
Tomas verfolgte diesen Streit (wie das ganze zehn Millionen zählende tschechische Volk) und sagte sich, daß es unter den Kommunisten gewiß Leute gegeben hatte, die nicht ganz so ahnungslos waren. (Sie mußten doch von den Greueltaten wissen, die auch im nachrevolutionären Rußland noch immer verübt wurden.) Doch ist es wahrscheinlich, daß die Mehrheit wirklich nichts wußte.
Er sagte sich: die Grundfrage laute nicht: Haben sie es gewußt oder nicht?, sondern: Ist der Mensch unschuldig, weil er unwissend ist? Ist ein Dummkopf auf dem Thron von aller Verantwortung freigesprochen, nur weil er ein Dummkopf ist?
Nehmen wir einmal an, daß ein tschechischer Staatsanwalt, der Anfang der fünfziger Jahre für einen Unschuldigen den Tod forderte, von der russischen Geheimpolizei und der Regierung seines Landes irregeführt worden ist. Wie aber ist es möglich, daß heute, da man weiß, daß die Anklagen absurd und die Hingerichteten unschuldig waren, derselbe Staatsanwalt die Reinheit seiner Seele verteidigt und sich an die Brust schlägt: Mein Gewissen ist rein, ich habe nichts gewußt, ich habe geglaubt! Liegt seine untilgbare Schuld nicht gerade in seinem »Ich habe nichts gewußt, ich habe geglaubt!«?
Und da kam Tomas die Geschichte von Ödipus in den Sinn: Ödipus wußte nicht, daß er mit der eigenen Mutter schlief, und als ihm klar wurde, was geschehen
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