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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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aus Erzählungen. Oder aus Büchern.
    Oder es waren ferne Vorfahren, die es so in ihr Unterbewußtsein eingeprägt hatten. Jedenfalls war das
    Bild klar und deutlich in ihr, wie das Foto der Urgroßmutter im Familienalbum, wie ein alter Stich.
    »Haben Sie noch Beschwerden?« fragte Tomas.
    Der Landwirt bezeichnete den Punkt im Nacken, wo Schädel und Wirbelsäule aufeinanderstießen. »Hier schmerzt es manchmal noch.«
    Ohne aufzustehen tastete Tomas die Stelle mit den Fingern ab und stellte seinem ehemaligen Patienten noch einige Fragen. Dann sagte er: »Ich habe nicht mehr das Recht, Rezepte auszustellen. Aber sagen Sie Ihrem Arzt zu Hause, daß Sie mit mir gesprochen haben und ich das da empfehle.« Er zog einen Notizblock aus der Brusttasche und riß ein Blatt ab. In Großbuchstaben notierte er den Namen des Medikaments.
    28.
    Sie fuhren zurück nach Prag.
    Teresa dachte an die Fotografie, auf der ihr nackter Körper in der Umarmung des Ingenieurs lag. Sie versuchte sich zu trösten: angenommen, eine solche Aufnahme existierte wirklich, so würde Tomas sie nie zu Gesicht bekommen. Das Foto war für diese Leute nur von Interesse, weil Teresa damit zu erpressen war. In dem Moment, da sie es Tomas schickten, würde es diesen Wert augenblicklich verlieren.
    Was aber, wenn die Polizei beschloß, daß Teresa für sie nicht mehr von Bedeutung war? In diesem Fall würde das Foto zum reinen Scherz. Niemand könnte verhindern, daß es jemand in einen Umschlag steckte und an Tomas  adressierte, vielleicht nur so zum Spaß.
    Was würde geschehen, wenn Tomas eine solche Aufnahme erhielte? Würde er sie fortjagen? Vielleicht nicht. Wohl kaum. Aber das zerbrechliche Gerüst ihrer Liebe bräche gänzlich zusammen, weil dieses Bauwerk nur auf der einzigen Säule ihrer Treue ruhte und Liebesgeschichten Imperien gleichen: wenn der Gedanke, auf dem sie gebaut sind, untergeht, so gehen sie mit ihm unter.
    Vor ihren Augen schwebte das Bild: Hase in einer Furche hoppelnd, Jäger mit grünem Filzhut, Kirchturm über dem Wald.
    Sie wollte Tomas sagen, daß sie aus Prag wegziehen sollten. Weg von den Kindern, die lebende Krähen in der Erde begruben, weg von den Spitzeln, weg von den mit Regenschirmen bewaffneten Mädchen. Sie wollte ihm sagen, daß sie aufs Land ziehen sollten. Daß dies der einzige Weg zur Rettung sei.
    Sie wandte ihm den Kopf zu. Tomas schwieg jedoch und schaute unverwandt auf die Straße. Sie war unfähig, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, die sich zwischen ihnen aufgerichtet hatte. Sie verlor den Mut zu sprechen. Es war ihr zumute wie damals, als sie den Laurenziberg hinuntergestiegen war. Sie spürte, daß ihr übel wurde, sie glaubte, erbrechen zu müssen. Sie hatte Angst vor Tomas. Er war zu stark für sie, und sie war zu schwach. Er erteilte ihr Befehle, die sie nicht verstand. Sie versuchte, sie auszuführen, doch sie konnte es nicht.
    Sie wollte auf den Laurenziberg zurück und den Mann mit der Flinte bitten, daß er ihr die Augen verband und sie sich an den Stamm der Kastanie lehnen durfte. Sie wollte sterben.
    Sie wachte auf und stellte fest, daß sie allein zu Hause war.
    Sie ging nach draußen und spazierte zum Fluß hinunter.
    Sie wollte die Moldau sehen, am Ufer stehen und lange in die Wellen schauen, weil der Blick auf fließendes Wasser beruhigt und heilt. Hunderte von Jahren fließt der Fluß dahin, und die Geschicke der Menschen spielen sich an seinen Ufern ab. Sie spielen sich ab, um morgen schon wieder vergessen zu sein, während der Fluß weiterfließt.
    Sie lehnte sich ans Geländer und schaute hinunter. Es war am Rande von Prag. Die Moldau hatte die Stadt bereits durchflossen und den Glanz des Hradschin und der Kirchen hinter sich gelassen. Die Moldau war wie eine Schauspielerin nach der Vorstellung, müde und gedankenverloren. Sie floß zwischen schmutzigen Ufern dahin, an denen hinter Zäunen und Mauern Fabriken und verwaiste Sportplätze lagen.
    Lange schaute sie ins Wasser, das ihr hier noch trostloser und dunkler erschien, und plötzlich sah sie auf dem Fluß etwas, etwas Rotes, ja, es war eine Bank. Eine Holzbank mit Metallfüßen, wie es so viele in den Parkanlagen von Prag gab. Gemächlich schwamm sie mitten in der Moldau dahin.
    Und dahinter noch eine Bank und noch eine, und erst jetzt sah Teresa, daß die Bänke der Prager Parkanlagen angeschwommen kamen, es waren viele und wurden immer mehr, sie schwammen im Wasser wie Herbstblätter, die der Fluß aus den Wäldern

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