Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
nichts finden. Sie fragten die Leute, aber diese zuckten bloß mit den Schultern oder gaben falsche Namen und verkehrte Richtungen an.
Jahre später schien es nun, als sei diese Anonymität gefährlich gewesen für das Land. Straßen und Häuser hatten ihre ursprünglichen Namen nicht wieder annehmen dürfen. So war aus einem böhmischen Kurort von einem Tag auf den anderen ein kleines, imaginäres Rußland geworden, und Teresa stellte fest, daß ihre Vergangenheit, auf deren Spuren sie hergekommen war, beschlagnahmt worden war. Sie konnten dort unmöglich die Nacht verbringen.
26.
Schweigend kehrten sie zum Wagen zurück. Sie dachte daran, daß alle Dinge und alle Menschen in Verkleidungen auftraten. Die alte böhmische Stadt hatte sich mit russischen Namen zugedeckt. Die Tschechen, die bei der Invasion fotografiert hatten, arbeiteten in Wirklichkeit der russischen Geheimpolizei zu. Der Mensch, der sie in den Tod geschickt hatte, trug Tomas' Maske vor dem Gesicht. Der Polizist gab sich für einen Ingenieur aus, und der Ingenieur wollte die Rolle des Mannes vom Laurenziberg spielen. Das Zeichen des Buches in seiner Wohnung war falsch und sollte sie auf einen Irrweg führen.
Als sie jetzt an das Buch dachte, das sie dort in die Hand genommen hatte, kam ihr plötzlich etwas in den Sinn, das sie erröten ließ: Wie war das doch gewesen? Der Ingenieur hatte gesagt, er würde Kaffee kochen gehen. Sie war zur Bibliothek getreten und hatte den Ödipus von Sophokles aus dem Regal genommen. Dann war der Ingenieur zurückgekommen. Aber ohne Kaffee!
Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dieser Situation zurück; als er Kaffee kochen gegangen war, wie lange war er weggeblieben? Mindestens eine Minute, vielleicht auch zwei oder drei. Und was hatte er in dieser Zeit in dem winzigen Vorraum gemacht? War er auf die Toilette gegangen? Teresa versuchte sich zu erinnern, ob sie das Schließen der Tür gehört hatte oder die Wasserspülung.
Nein, Wasser hatte sie bestimmt nicht gehört, daran könnte sie sich erinnern. Und sie war sich fast sicher, daß sie kein Türgeräusch gehört hatte. Was hatte er also im Vorraum gemacht?
Plötzlich schien ihr alles nur allzu klar. Wollte man sie in einer Falle fangen, so war die Aussage eines Ingenieurs nicht ausreichend. Man brauchte einen unwiderlegbaren Beweis.
Während dieser verdächtig langen Abwesenheit hatte der Mann im Vorraum eine Kamera installiert. Oder, was wahrscheinlicher war, er hatte jemanden mit einem Fotoapparat hereingelassen, der hinter dem Vorhang versteckt Aufnahmen machte.
Noch vor ein paar Wochen hatte sie sich über Prochazka lustig gemacht, weil er nicht wußte, daß er in einem Konzentrationslager lebte, wo es keine Privatsphäre gab. Und sie?
Als sie das Haus der Mutter verließ, hatte sie, Närrin, geglaubt, sie sei ein für allemal Herrin ihres Privatlebens geworden. Das Reich der Mutter erstreckte sich jedoch über die ganze Welt und griff überall nach ihr. Nirgends würde Teresa sich ihm entziehen können.
Zwischen Gärten stiegen sie die Stufen zum Marktplatz hinunter, wo sie das Auto geparkt hatten.
»Was hast du?« fragte Tomas.
Noch bevor sie antworten konnte, wurde er von jemandem begrüßt.
Es war ein Mann in den Fünfzigern, mit einem vom Wetter gegerbten Gesicht, ein Mann vom Land, den Tomas einst operiert hatte. Seitdem wurde er jedes Jahr in dieses Heilbad zur Kur geschickt. Er lud Tomas und Teresa zu einem Glas Wein ein. Da es verboten war, Hunde in Lokale mitzunehmen, brachte Teresa Karenin ins Auto; die beiden Männer gingen voraus in das Kaffeehaus. Als sie zu ihnen zurückgekehrt war, sagte der Mann vom Lande: »Bei uns herrscht Ruhe. Ich bin vor zwei Jahren sogar zum Vorsitzenden der Genossenschaft gewählt worden.«
»Gratuliere«, sagte Tomas.
»So ist das eben auf dem Land, wissen Sie. Die Leute laufen weg. Die dort oben müssen froh sein, daß überhaupt noch jemand bleibt. Uns können sie nicht entlassen.«
»Das wäre der ideale Ort für uns«, sagte Teresa.
»Sie würden sich dort langweilen, junge Frau. Dort gibt es nichts. Rein gar nichts.«
Teresa blickte in das verwitterte Gesicht des Landwirts. Er war ihr sehr sympathisch. Nach so langer Zeit war ihr endlich wieder einmal jemand sympathisch! Vor ihren Augen tauchte eine ländliche Idylle auf: ein Dorf mit Kirchturm, Felder, Wälder, ein Hase, der durch die Furchen hoppelte, ein Jäger im grünen Filzhut. Sie hatte nie auf dem Land gelebt. Dieses Bild kannte sie nur
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