Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
ihrer Bilder erklärt: vorne ist die verständliche Lüge, und von hinten schimmert die unverständliche Wahrheit durch.
Diejenigen aber, die gegen die sogenannten totalitären Regime kämpfen, können schwerlich mit Fragen und Zweifeln zu Felde ziehen. Auch sie brauchen ihre Sicherheiten und einfachen Wahrheiten, die möglichst vielen verständlich sein und kollektives Tränenvergießen hervorrufen müssen.
Einmal hatte eine politische Gruppierung in Deutschland für Sabina eine Ausstellung organisiert. Sabina nahm den Katalog zur Hand: über ihr Foto war ein Stacheldraht gezeichnet. Die abgedruckte Biographie glich einer Hagiographie von Märtyrern: sie hatte gelitten, gegen Ungerechtigkeit gekämpft, ihr gefoltertes Vaterland verlassen müssen, und sie kämpfte weiter. »Sie kämpft mit ihren Bildern für das Glück«, lautete der letzte Satz des Textes.
Sie protestierte, doch man verstand sie nicht.
Ist es denn nicht wahr, daß in den kommunistischen Ländern die moderne Kunst verfolgt wird?
Wütend sagte sie: »Mein Feind ist nicht der Kommunismus, sondern der Kitsch.«
Seitdem umwob sie ihre Biographie mit Mystifikationen, und als sie später in Amerika lebte, gelang es ihr sogar zu verheimlichen, daß sie Tschechin war. Es war der verzweifelte Versuch, dem Kitsch, den man aus ihrem Leben machen wollte, zu entrinnen.
Sie stand vor der Staffelei mit einem unvollendeten Bild.
Hinter ihrem Rücken saß ein alter Mann in einem Sessel und verfolgte jeden ihrer Pinselstriche.
Dann schaute er auf seine Uhr: »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.«
Sie legte die Palette aus der Hand und ging ins Badezimmer, um sich frisch zu machen. Der alte Mann erhob sich aus dem Sessel und beugte sich vor, um nach seinem Stock zu fassen, der an den Tisch gelehnt war. Die Tür des Ateliers führte direkt auf den Rasen. Es dunkelte. In zwanzig Metern Entfernung stand ein weißgestrichenes Holzhaus, dessen Fenster im Erdgeschoß erleuchtet waren. Sabina war über diese beiden Fenster, die in der Abenddämmerung leuchteten, gerührt.
Ihr Leben lang hat sie behauptet, ihr Feind sei der Kitsch.
Aber trägt sie ihn nicht selbst in sich? Ihr Kitsch ist das Bild eines ruhigen, lieblichen, harmonischen Heims, in dem eine liebende Mutter und ein weiser Vater regieren. Dieses Bild ist nach dem Tode ihrer Eltern in ihr entstanden. Je weniger ihr Leben diesem süßen Traum glich, desto empfänglicher wurde sie für seinen Zauber, und schon einige Male mußte sie sich die Tränen wegwischen, wenn sie im Fernsehen eine sentimentale Geschichte sah, in der eine undankbare Tochter ihren verratenen Vater umarmte und ein erleuchtetes Fenster mit einer glücklichen Familie dahinter in der Abenddämmerung leuchtete.
Den alten Mann hatte sie in New York kennengelernt. Er war reich und liebte Bilder. Er lebte mit seiner Frau, die so alt war wie er, in einer Villa auf dem Lande. Auf seinem Grundstück der Villa gegenüber stand ein alter Stall. Er hatte ihn für Sabina zu einem Atelier umbauen lassen und sie dorthin eingeladen. Seitdem beobachtete er tagein tagaus die Bewegungen ihres Pinsels.
Nun sitzen sie alle drei beim Abendessen. Die alte Frau redet Sabina mit »mein Töchterchen« an, aber allem Anschein nach ist es gerade umgekehrt: Sabina ist hier wie eine Mama mit zwei Kindern, die an ihr hängen, die sie bewundern und die bereit wären, ihr zu gehorchen, falls sie ihnen etwas befehlen würde.
Hat sie also an der Schwelle zum Alter die Eltern gefunden, von denen sie sich als Kind losgesagt hat? Hat sie endlich die Kinder gefunden, die sie selbst nie hatte?
Sie weiß, daß es eine Illusion ist. Ihr Aufenthalt bei den alten Leuten ist nur ein kurzer Halt. Der alte Herr ist ernsthaft krank, und sobald seine Frau allein zurückbleibt, wird sie zu ihrem Sohn nach Kanada ziehen. Sabina wird den Weg von Verrat zu Verrat weitergehen, und von Zeit zu Zeit wird aus ihrem Innersten ein lächerlich sentimentales Lied in die unerträgliche Leichtigkeit des Seins klingen, ein Lied von zwei erleuchteten Fenstern, hinter denen eine glückliche Familie lebt.
Dieses Lied rührt Sabina, doch nimmt sie ihre eigene Rührung nicht ernst. Sie weiß nur zu gut, daß dieses Lied eine schöne Lüge ist. Und in dem Moment, da der Kitsch als Lüge entlarvt wird, gerät er in den Kontext des NichtKitsches. Er verliert seine autoritäre Macht und ist rührend wie jede andere menschliche Schwäche. Keiner von uns ist ein Übermensch, der völlig gegen den Kitsch
Weitere Kostenlose Bücher