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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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gefeit wäre. Wir können ihn noch so verabscheuen, der Kitsch gehört nun einmal zum menschlichen Dasein.
    Die Quelle des Kitsches ist das kategorische Einverständnis mit dem Sein.
    Was aber ist die Grundlage des Seins? Gott? Der Mensch?
    Der Kampf? Die Liebe? Der Mann? Die Frau?
    Darüber gibt es so verschiedene Ansichten, wie es verschiedene Arten von Kitsch gibt: den katholischen, den protestantischen, den jüdischen, den kommunistischen, den faschistischen, den demokratischen, den feministischen, den europäischen, den amerikanischen, den nationalen und den internationalen.
    Seit der Französischen Revolution nennt sich die eine Hälfte Europas Linke, während die andere sich die Bezeichnung Rechte erworben hat. Es ist nahezu unmöglich, den einen oder den anderen Begriff aufgrund irgendwelcher theoretischer Prinzipien, auf die er sich stützte, zu definieren.
    Das ist nicht weiter verwunderlich: politische Bewegungen beruhen nicht auf rationalen Haltungen, sondern auf Vorstellungen, Bildern, Wörtern und Archetypen, die als Ganzes diesen oder jenen politischen Kitsch bilden.
    Die Vorstellung des Großen Marsches, von der sich Franz berauschen läßt, ist der politische Kitsch, der die Linken aller Zeiten und aller Richtungen vereinigt. Der Große Marsch, das ist der großartige Weg vorwärts, der Weg zur Brüderlichkeit, zur Gleichheit, zur Gerechtigkeit, zum Glück und noch weiter über alle Hindernisse hinweg, denn Hindernisse muß es geben, damit der Marsch ein  Großer Marsch ist.
    Diktatur des Proletariates oder Demokratie? Verdammung der Konsumgesellschaft oder Erhöhung der Produktion? Guillotine oder Abschaffung der Todesstrafe? Darauf kommt es überhaupt nicht an. Das, was einen Linken zu einem Linken macht, ist nicht diese oder jene Theorie, sondern seine Fähigkeit, jede Theorie zum Bestandteil des Kitsches zu machen, den man den Großen Marsch vorwärts nennt.
    14.
    Franz ist keineswegs ein Mensch des Kitsches. Die Vorstellung vom Großen Marsch spielt in seinem Leben ungefähr dieselbe Rolle, wie das sentimentale Lied von den zwei erleuchteten Fenstern in Sabinas Leben. Welche politische Partei wählt Franz? Ich fürchte, er wählt gar nicht und macht am Wahltag lieber einen Ausflug in die Berge. Das bedeutet allerdings nicht, daß der Große Marsch ihn nicht mehr bewegt. Es war schön zu träumen, Teil einer marschierenden Menge zu sein, die im Laufe von Jahrhunderten vorwärts schreitet, und Franz hat diesen schönen Traum nie vergessen.
    Eines Tages riefen ihn Freunde aus Paris an. Sie würden einen Marsch nach Kambodscha organisieren und er sollte sich ihnen anschließen.
    Kambodscha hatte zu jener Zeit einen Bürgerkrieg, die amerikanischen Bombardements und das Wüten der einheimischen Kommunisten hinter sich, die dieses kleine Volk um ein Fünftel reduziert hatten, und schließlich folgte die Okkupation durch das benachbarte Vietnam, das damals nichts anderes als ein Instrument Rußlands war. In Kambodscha herrschte Hungersnot, und die Menschen starben ohne ärztliche Hilfe. Internationale Ärzteorganisationen hatten schon mehrmals verlangt, man sollte ihnen die Einreise in das Land erlauben, doch die Vietnamesen lehnten ab. Namhafte westliche Intellektuelle wollten daher zu Fuß zur kambodschanischen Grenze marschieren und mit diesem großen, vor den Augen aller Welt aufgeführten Spektakel die Einreise der Ärzte in das besetzte Land erzwingen.
    Der Freund, der Franz angerufen hatte, war einer der Kollegen, mit denen er früher im Demonstrationszug durch die Straßen von Paris marschiert war. Zunächst war Franz ganz begeistert von diesem Vorschlag, aber dann fiel sein Blick auf die Studentin mit der großen Brille. Sie saß ihm gegenüber in einem Sessel, und ihre Augen wirkten noch größer hinter den runden Gläsern. Franz hatte das Gefühl, als würden diese Augen ihn bitten, nicht wegzufahren. Er sagte ab.  Kaum aber hatte er den Hörer aufgelegt, bereute er es.
    Zwar tat er seiner irdischen Geliebten einen Gefallen, doch vernachlässigte er seine himmlische Liebe. Ist Kambodscha nicht eine Variante von Sabinas Heimat? Ein von der benachbarten kommunistischen Armee besetztes Land! Ein Land, auf das die Faust Rußlands niedergefahren war! Auf einmal schien es Franz, als habe sein fast vergessener Freund ihn auf einen geheimen Wink Sabinas hin angerufen.
    Himmlische Wesen wissen alles und sehen alles. Nähme er an diesem Marsch teil, so würde ihm Sabina zuschauen und sich darüber

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