Die Ungehorsame Historischer Roman
»Boxunterricht erteilt Mansel ihm!«
Merzenich lachte.
»Sei standhaft im Glauben und standhaft im Ring. Eine gute Mischung, Hendryk!«
Ja, es waren schöne Ferien, die Kinder wurden braun wie die Haselnüsse, und an besonders heißen Tagen badeten sie im Rhein mit einer
bunten Ansammlung anderer Rabauken aus dem Ort, kamen schon mal mit aufgeschürften Knien und Kratzern zurück, Ursel nicht minder als Lennard. Rike blühte ebenfalls auf. Ihre schreckliche Erfahrung hatte, wie sie mit größter Erleichterung feststellen konnten, wenigstens keine weiteren Folgen. Wenn sie auch ein bisschen langsam war, sowohl in ihren Bewegungen als auch im Denken, so war sie doch gründlich und sorgfältig. Was immer sie ihr auftrug, erledigte sie. Manchmal umständlicher, als Leonie oder selbst Ursel es getan hätte, aber sie erfüllte ihre Aufgaben immer ordentlich. Den Zwillingen war sie mit aufrichtiger Liebe zugetan, und einmal vertraute sie Leonie an, sie wünschte, sie hätte solche Geschwister.
An einem Wochenende kamen dann auch Sven und Edith von Bonn herüber, und man veranstaltete in Merzenichs Garten ein Fest, bei dem ein Spanferkel über offenem Feuer gegrillt wurde.
»Ach, Leonie, ich freue mich für dich. Du siehst glücklich aus!«, stellte Edith fest, als sie gemeinsam noch einen Verdauungsspaziergang zum Rhein machten.
»Ja, ich bin es auch. Trotz all der unbeantworteten Fragen, die es noch gibt. In den letzten Wochen habe ich fast vergessen, daran zu denken.«
»Er ist ein feiner Mann, dein Hendryk. Der Pastor hat geradezu einen Narren an ihm gefressen.«
»Ganz anders als mein Vater. Hat er sich eigentlich wieder beruhigt?«
»Es sieht so aus. In der letzten Zeit - ich sehe ihn ja nicht sehr oft - scheint er irgendeine befriedigende Beschäftigung gefunden zu haben. Mein Vater meint, er habe einige interessante Geschäfte getätigt, von denen er sich einen hohen Gewinn erhofft.«
»Mein Vater Gutermann? Geschäfte?«
»Er kauft Immobilien.«
»Weitere Bruchbuden, die er für einen Wucherzins vermietet.«
»Man kann es niemandem verbieten.«
»Nein, das kann man nicht.«
Kurzfristig verdüsterte sich Leonies Ferienstimmung, als sie an ihre Familie dachte. Sie verdüsterte sich weiter, als ihre Cousine bemerkte: »Rosalie ist in der letzten Zeit ernst und zurückhaltend geworden. Ich frage mich, ob sie tatsächlich etwas Reife erwirbt.«
»Das muss sie zwingend. So schön diese zugewandte Art bei einem Kind ist, bei einem jungen Mädchen ist es überaus ungehörig. Vielleicht hat meine Stiefmutter das jetzt ja endlich begriffen.«
Sie wandten sich dann aber den ihnen vertrauten Themen der Wohlfahrt zu, und Leonie erhielt noch eine ganze Reihe nützlicher Ratschläge, wie sie den Waisenkindern auch weiterhin auf praktische Art helfen konnte.
Als sie zu den Herren zurückkehrten, wurde aber auch hier gerade das Thema Immobilienkäufe behandelt, was Hendryk etwas zu echauffieren schien.
»Mir sind nur derzeit die Hände gebunden, Sven, denn Bredow hat ganze Arbeit geleistet. Ich bin etwas in Ungnade gefallen!«, hörte sie ihn sagen.
»Ich werde mir den Corporal vorknöpfen«, knurrte der Angesprochene, aber ihr Gatte winkte ab.
»Das macht es möglicherweise noch schlimmer. Lassen wir Gras über die Sache wachsen.«
Es freute Leonie, dass Hendryk auch zu Sven und Edith Vertrauen gefasst hatte. Einige kleine Puzzlesteine aus seinem Leben waren in diesen sonnigen Wochen zu einem Bildausschnitt zusammengefallen. Zum Beispiel die Bemerkung über den Deister - die Redensart »über den Deister gehen« hatte sie neugierig gemacht. Eine derart burschikose Formulierung verwendete er sonst nie, also schlug sie in des Pastors umfangreicher Bibliothek nach und fand tatsächlich den Hinweis auf den Gebirgszug im Hannoverschen, der sich Deister nannte. Ernst von Benningsen, Hendryks alter Freund, stammte daher - das gab der Annahme Gewicht, auch er könne in dieser Gegend aufgewachsen sein. Ob Ernst an jenem Ausflug beteiligt war? Er hatte die Narbe einer alten Brandwunde im Gesicht. Einer der Blessierten aus dem Streit? Möglich, nicht wahr? Hendryk hatte Bergbau studiert, was auch seine Fähigkeiten in der Landvermessung erklärte und es denkbar machte, dass er vielleicht sogar an dieser Expedition des Geologen Russegger teilgenommen hatte.
Er und sein Bruder.
Zwei Mineralogen, Brüder, waren dabei umgekommen.
Seine Albträume, ja, sie waren der Schlüssel zu einer Pforte, die in die Nacht
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