Die Ungehorsame Historischer Roman
Danach hatte Jussuf jedoch seine Spur auch verloren.
Hendryk hingegen fand hier eine Möglichkeit anzusetzen. Russegger musste wissen, wohin sich Langer nach dem Griechenlandbesuch begeben hatte. Er war inzwischen Vizedirektor der Berg-und Salinendirektion in Hall in Tirol, wie Hendryk durch das Studium von Fachaufsätzen herausgefunden hatte. Zwar nicht unter seinem richtigen Namen, denn den kannte Russegger und hielt den Mann, der ihn geführt hatte, für tot, aber als Hendryk Mansel, ein ganz neuer alter Freund des guten Erich Langer, würde er eine höfliche Bitte an den Herrn Vizedirektor formulieren, ihn über dessen Verbleib zu unterrichten.
Jussuf hingegen würde einen sehr langen Brief von ihm erhalten.
Er hatte bis spät am Abend im Büro gesessen und Seite um Seite gefüllt. Oft war es ihm schwer gefallen, die Sätze zu formulieren, denn die alten Wunden schmerzten bei jedem Wort, das er über seinen Bruder schreiben musste. Müde und ausgelaugt machte er sich in der Abenddämmerung auf den Weg nach Hause.
Leonie würde auf ihn warten.
Was wäre es schön, sich von ihr trösten zu lassen. Sie waren den Sommer über sehr glücklich gewesen, und so manches Mal hatte er gedacht, sie sei bereit, ihm ein wenig mehr Nähe zu gestatten. Oft hatte sie ihren Kopf an seine Schulter gelehnt, hin und wieder geduldet, dass er sie sanft an sich zog, doch als er einmal den vorsichtigen Versuch gemacht hatte, ihr in der Dunkelheit des Bettes einen zärtlichen Kuss zu geben, war sie wieder starr geworden. Welche Ängste sie in Fängen halten mussten, dass sie so gar keine männliche Annäherung ertragen konnte!
Nun, zumindest kam er heim zu ihr, und allein ihr Lächeln würde ihn aufmuntern.
Doch als er das Wohnzimmer betrat, traf er sie steif und aufrecht
an ihrem Sekretär sitzend, die Tinte war auf ein weißes Blatt gespritzt und trocknete nun in der Feder.
»Leonie!«
Sie fuhr zusammen.
»Ich habe Sie nicht kommen hören.«
»Sie waren in Gedanken, meine Liebe. Haben Sie schlechte Nachrichten erhalten?«
»Ja. Ja, so kann man es wohl bezeichnen.«
»Wollen Sie sich mir anvertrauen, Leonie, oder betrifft es private Dinge?«
»Rosalie ist am einunddreißigsten August von zu Hause fortgelaufen.«
»Ihre kleine Schwester? Hat man sie wiedergefunden oder wird sie noch vermisst?«
»Man hat sie gestern gefunden. Sie ist tot.«
»Oh Gott. Leonie, das tut mir leid. Sie war so ein fröhliches Ding.«
»Sie war ein beschränktes - Ding!«
Mehr von diesen Worten erschüttert, die vor Abscheu troffen, als von dem eigentlichen Unglücksfall, setzte er sich nieder.
Leonie legte die Feder beiseite und stand auf. Ihr Weg führte zur Kredenz, auf der die Karaffen standen, und sie goss sich ein höchst undamenhaftes Quantum Cognac ein.
»Für mich bitte auch einen, meine Liebe.«
Sie füllte ein zweites Glas und setzte sich neben ihn. Langsam und stetig trank sie das Glas leer. Dann begann sie mit tonloser Stimme zu berichten.
»Sie war, wie Edith mir sagte, in der letzten Zeit seltsam ernst geworden. Und dann hat sie ganz plötzlich das Haus verlassen. Meine Stiefmutter ist sehr nachlässig in ihrer Aufsicht. Rosalie kann nicht schreiben, also brauchen Sie nicht nach einem Abschiedsbrief zu fragen, Hendryk.«
»Ich weiß, sie ist ein wenig zurückgeblieben.«
»Geistig, ja, nicht körperlich.«
Auch das hatte er registriert, und seine Ahnungen wurden böse.
»Man hat sie an der Posthalterei gesehen. Sie hat Passagiere angebettelt, sie mit nach Köln zu nehmen. Zu mir.«
»Großer Gott.«
»Ein Mann, der behauptete, sie zu kennen, hat die Fahrkarte für sie bezahlt.«
Seine Ahnungen wurden noch böser.
»Als die Pferde in Brühl gewechselt wurden, verschwand er mit ihr, und kurz darauf stürzte sie auf die Straße. Sie wurde von einer Eilpost erfasst. Sie war sofort tot.«
Seine bösesten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Es musste für Leonie entsetzlich sein.
»Hat man herausgefunden, wer der Mann war?«
»Er blieb verschwunden. Doch man schilderte ihn als einen mageren, blassen Mann mit rötlichem Kraushaar und einer Brille.«
Hendryk ballte die Fäuste.
»Lüning?«
»Ich vermute es. Aber es gibt mehr Männer, auf die diese Beschreibung passt.«
»Er kennt Rosalie, er gehörte zu Gutermanns Rosenkranzbruderschaft.«
»Das wusste ich nicht. Ich habe mich von diesen Brüdern immer ferngehalten.«
»Gut so!«
»Sie wird übermorgen beerdigt.«
»Sie wollen sicher an der Trauerfeier
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